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Diamantene Kutsche

Diamantene Kutsche

Titel: Diamantene Kutsche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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vor und ließ kein Auge von dem Gaijin. Der drehte sich um und schaute durch das offene Fenster hinaus. Ein blauer Kasten mit zwei gekreuzten Posthörnern darauf schien sein Interesse zu wecken.
    Seine Antwort bestand aus zwei Worten: »Einen Postboten.«
    Onkel und Neffe wechselten einen Blick.
    »Der Briefe austrägt?« vergewisserte sich der Jonin.
    »Der B-briefe austrägt.«
     
    Die ganze Tasche
    Voll Liebe, Freude und Leid
    Hat der Postbote.

Ein echter Akunin
    Die städtische Eilpost, eine der bequemsten Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts, war im Settlement erst vor kurzem eingerichtet worden, und deshalb bedienten sich die Einwohner ihrer Dienste häufiger, als es nötig gewesen wäre. Die Eilboten beförderten nicht nur offizielle Briefe, zum Beispiel von einer Handelsfirma in der Mainstreet an das Zollkontor auf dem Bund, sondern auch Einladungen zum Five o’clock, Reklameblätter, intime Schreiben, ja sogar Nachrichten von Ehefrauen an ihren Mann, daß es Zeit sei, zum Essen nach Hause zu kommen.
    Keine halbe Stunde nachdem Fandorin ein Kuvert mit einer Blitzmarke für fünf Cent in den Schlitz des Kastens mit den Posthörnern geworfen hatte, erschien ein braver Ponyreiter in blauer Uniform, überprüfte den Inhalt des Kastens und ritt die gepflasterte Straßehinauf, um den Brief dem Adressaten zuzustellen: Bluff Nummer 130.
    »Was ist in dem Kuvert?« fragte Tamba zum viertenmal.
    Die ersten drei Versuche waren vergeblich gewesen. Die fieberhafte Lebhaftigkeit, mit der Fandorin das Kuvert beschriftet hatte, war tiefer Apathie gewichen. Der Gaijin hörte die Fragen nicht, die man ihm stellte – er saß da, blickte teilnahmslos hinaus auf die Straße, schnappte von Zeit zu Zeit nach Luft und rieb sich die Brust, als sei seine Weste ihm zu eng.
    Aber der alte Tamba war geduldig. Er schwieg eine Weile und fragte erneut. Dann noch einmal.
    Endlich bekam er eine Antwort.
    »Wie?« Fandorin fuhr auf. »Im Kuvert? Ein Gedicht. Sobald Shirota es gelesen hat, wird er sofort losrennen. Und er wird diese Straße entlangkommen, über die B-brücke. Allein.«
    Das mit dem Gedicht verstand Tamba nicht, aber er fragte nicht weiter – es spielte keine Rolle.
    »Allein? Sehr gut. Wir schnappen ihn uns, das wird nicht schwer sein.«
    Er beugte sich zu Den und redete hastig auf Japanisch auf ihn ein. Der Neffe nickte und sage immer wieder: »Hai, hai, hai …«
    »Ihr müßt ihn euch nicht schnappen«, mischte sich Fandorin in ihre geschäftige Erörterung. »Es reicht, wenn ihr ihn einfach herbringt. Schafft ihr das?«
     
    Shirota erschien recht bald – Tamba war gerade mit seinen Zurüstungen fertig.
    Auf der Straße ertönte schnelles Hufgetrappel, und ein Reiter mit Panamahut und in einem hellen, sandfarbenen Anzug jagte um die Ecke. Der ehemalige Schreiber war kaum wiederzuerkennen – so elegant, ja geckenhaft sah er aus. Unter seiner etwas platten Nase leuchtete ein schwarzer Bürstenschnurrbart, anstelle derNickelbrille trug er nun einen nagelneuen, funkelnden goldenen Zwicker.
    Das puterrote Gesicht des einheimischen Gentleman und der rasende Galopp des Pferdes ließen darauf schließen, daß Shirota es furchtbar eilig hatte. Doch vor der Brücke mußte er die Zügel anziehen – ein krummgebeugter Bettler im staubigen Kimono verstellte ihm den Weg, griff nach dem Zaumzeug und begann in widerwärtigem, gespielt klagendem Diskant zu betteln.
    Shirota, das erhitzte Pferd bändigend, beschimpfte den Mann und riß am Zügel – doch der Landstreicher hatte sich daran festgekrallt.
    Fandorin beobachtete das Geschehen unauffällig aus dem Fenster der Teestube. Zwei, drei Passanten, im ersten Augenblick von dem Geschrei angezogen, hatten bereits das Interesse an der unspektakulären Szene verloren und gingen wieder ihrer Wege.
    Eine Weile versuchte der Reiter vergebens, sich loszureißen. Dann fiel ihm schließlich eine schnellere Methode ein. Vor sich hin fluchend, wühlte er in seiner Tasche, förderte eine Münze zutage und warf sie dem Alten zu.
    Tatsächlich ließ der Bettler das Zaumzeug sofort los. In einem Anfall von Dankbarkeit griff er nach der Hand seines Wohltäters und preßte seine Lippen darauf (vermutlich hatte er das bei Gaijin gesehen). Dann sprang er zurück, verbeugte sich tief und trottete davon.
    Verblüffend: Shirota schien vergessen zu haben, daß er es eilig hatte. Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfe, als wolle er sich an etwas erinnern. Plötzlich schwankte er wie

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