Diamantene Kutsche
Niemand wird ahnen, daß er getötet wurde. Die Leibwächter werden schwören, sie hätten kein Auge zugetan. Ein natürlicher Tod. Sein Herz ist im Schlaf stehengeblieben. Das passiert bei übermäßig vollblütigen Menschen.«
Von mystischer Erstarrung erfaßt, betrachtete Fandorin das rotwangige Gesicht seines Erzfeindes. Das ist kein Déjà-vu, sagte er sich. Das habe ich tatsächlich schon einmal erlebt. Ich stand vor dem schlafenden Tsurumaki und lauschte auf seinen gleichmäßigen Atem. Aber damals war alles anders. Er schlief nicht, er verstellte sich nur – erstens. Und ich war das Opfer, nicht der Jäger – zweitens. Außerdem klopfte mein Herz damals wie wild, nun aber ist es ganz ruhig.
»Ich kann keinen Schlafenden töten«, sagte Fandorin. »Weck ihn auf.«
Tamba murmelte halblaut etwas – vermutlich einen Fluch. Aber er stritt nicht mit Fandorin.
»Gut. Aber sei vorsichtig. Er ist geschickt und mutig.«
Der Jonin berührte den Hals des Dickwanstes und sprang in den Schatten.
Tsurumaki zuckte zusammen und öffnete die Augen, die sich beim Anblick der schwarzen Gestalt mit erhobener Hand weiteten.
Fandorin riß sich die Maske vom Gesicht, und Tsurumakis Augen wurden noch größer.
Das Dümmste, was Fandorin in dieser Situation tun konnte, war, sich auf ein Gespräch mit dem Verurteilten einzulassen – aber wie sollte er einen Unbewaffneten töten, noch dazu stumm, wie ein Henker?
»Das ist kein Traum«, sagte Fandorin. »Leb wohl, Akunin, und sei verflucht.«
Nun hatte er sich verabschiedet, stach aber noch immer nicht zu.
Wer weiß, wie das Ganze geendet hätte, aber Fandorin hatte Glück: Tsurumaki, ein Mann mit starken Nerven, riß einen Revolver unterm Kopfkissen hervor. Da endlich jagte Fandorin ihm erleichtert den Holzstab ins Schlüsselbein.
Tsurumaki stieß einen eigenartigen Schnarcher aus, ließ die Waffe fallen, zuckte ein paarmal und verstummte. Unter seinen halbgeschlossenen Lidern schimmerten weiß die Augäpfel.
Fandorin versuchte, mit ganzer Brust einzuatmen – vergebens!
Wie das? Der Tod des Feindes hatte keine Erleichterung gebracht? Vielleicht, weil alles zu schnell und zu mühelos gegangen war?
Er holte aus, um noch einmal zuzustechen, doch Tamba fiel ihm in den Arm.
»Genug! Es würden Spuren bleiben.«
»Ich kann trotzdem nicht atmen«, klagte Fandorin.
»Keine Sorge, das wird gleich wieder.« Der Jonin klopfte dem Vizekonsul auf den Rücken. »Der Tod des Feindes ist die beste Medizin.«
Erstaunlich, aber nach diesen Worten ging es Fandorin besser. Als habe sich in seinem Inneren eine Feder gelöst. Vorsichtig atmete er ein – die Luft drang mühelos in seine Brust, und er pumpte sie randvoll. Das war eine solche Wonne, daß ihm ganz schwindlig wurde.
Das Ganze war also nicht umsonst gewesen!
Während der Vizekonsul noch die neugewonnene Atemfreiheit genoß, versteckte Tamba den Revolver wieder unterm Kopfkissen, bettete den Toten natürlicher, öffnete seinen Mund einen Spaltbreit, sprühte etwas hinein, und Schaumbläschen traten auf die Lippen. Dann schob er den Kragen des Nachthemds herunter und wischte den einzigen Blutstropfen ab.
»Das war’s, gehen wir! Wir wollen unserem Freund Shirota keinen Ärger machen. Nun, was ist denn?«
Mit der Atmung war auch das klare Denken zu Fandorin zurückgekehrt. Er blickte Tamba an und sah ihn, wie ihm schien, zum erstenmal richtig – ja, er durchschaute ihn.
»Unseren Freund!« wiederholte Fandorin. »Natürlich, es ging dir um Shirota. Darum brauchtest du mich. An Tsurumaki hättest du dich auch ohne mich rächen können. Aber das reicht dir nicht, du möchtest das Bündnis mit der mächtigen Organisation, die Tsurumaki geschaffen hat, erneuern. Du hast kalkuliert, wenn Tsurumaki nicht mehr ist, wird seine rechte Hand, Shirota, die Organisation leiten. Vor allem, wenn du ihm dabei hilfst. Aber du wußtest nicht, wie du an Shirota herankommen solltest. Und da hast du beschlossen, mich zu benutzen. Richtig?«
Der Jonin schwieg. Hinter dem Schlitz seiner Maske brannten die Augen in loderndem, wütendem Feuer. Doch der unaufhaltsame Strom befreiten Denkens trug Fandorin immer weiter.
»Ich konnte nicht atmen! Jetzt erinnere ich mich, wie das anfing! Dort am Feuer hast du mich gehalten, als wolltest du mich stützen, und dabei meine Brust zusammengepreßt! Ich dachte, ich könnte vor Erschütterung nicht mehr atmen, dabei waren das deine Tricks! Mit halbgelähmter Lunge, versteinerter Seele und erstarrtem
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