Diamond Age - Die Grenzwelt
Zimmer, nahm die Fibel zur Hand und erfand selbst eine Geschichte darüber, wie die böse Stiefmutter Prinzessin Nell zwang, das Haus zu putzen und sie schlug, weil sie es nicht richtig gemacht hatte. Die Fibel lieferte die Bilder zu der Geschichte. Als sie fertig war, hatte sie die tatsächlichen Ereignisse schon vergessen und erinnerte sich nur noch an die Geschichte, die sie erfunden hatte.
Danach ließ Mom eine Zeitlang die Finger von Männern, aber einige Monate später lernte sie einen Burschen namens Brad kennen, der ziemlich nett war. Er hatte einen richtigen Job als Hufschmied in der Klave New Atlantis, und eines Tages nahm er Nell mit zur Arbeit und zeigte ihr, wie er den Pferden Schuhe aus Eisen an die Hufe nagelte. Nell sah zum erstenmal ein Pferd, daher schenkte sie Brad mit seinen Hämmern und Nägeln wenig Beachtung. Brads Arbeitgeber besaßen ein riesiges Haus mit weitläufigen grünen Rasenflächen, und sie hatten vier Kinder, alle größer als Nell, die in schicken Kleidern herauskamen und auf den Pferden ritten.
Aber Mom trennte sich von Brad; sie könne Handwerker nicht ausstehen, sagte sie, weil sie zu große Ähnlichkeit mit den echten Viktorianern hatten und immer eine Menge Stuß verzapften, daß dies besser wäre als das, was schließlich, erklärte sie, zu der Überzeugung führte, daß manche Menschen besser wären als andere. Sie ließ sich mit einem Typen namens Burt ein, der schließlich bei ihnen einzog. Burt erklärte Nell und Harv, daß der Haushalt Disziplin verlangte, die er ihm geben würde, und danach schlug er sie andauernd, manchmal auf den Po und manchmal ins Gesicht. Mom schlug er auch ziemlich oft.
Nell verbrachte viel mehr Zeit auf dem Spielplatz, wo sie die Übungen, die Dojo Belle beibrachte, leichter nachahmen konnte. Manchmal spielte sie auch mit den anderen Kindern. Eines Tages spielte sie Seilball mit einer ihrer Freundinnen und besiegte sie jedesmal. Dann kam ein Junge, der größer als Nell und ihre Freundin war, und bestand darauf, daß er mitspielte. Nells Freundin räumte das Feld, und dann spielte Nell gegen den Jungen, der Kevin hieß. Kevin war ein großer, kräftiger Junge, der sich nicht wenig auf seine Größe und seine Kraft einbildete, und dessen Philosophie beim Seilball sich auf Siegen durch Einschüchterung beschränkte. Er schnappte sich den Ball, plusterte sich melodramatisch auf, fletschte die Zähne und ließ sein Gesicht ganz rot anlaufen, und dann schlug er den Ball mit einem Windmühlenschlag, von Geräuscheffekten begleitet, bei denen der Ball immer mit Spucke bespritzt wurde. Die Vorstellung geriet ihm so eindrucksvoll, daß viele Kinder einfach nur dastanden, ehrfürchtig zusahen und Angst hatten, dem Seilball in die Quere zu kommen; und danach schlug Kevin den Ball bei jeder Umdrehung einfach immer schneller, während er seinen Gegner mit einem Schwall von Verwünschungen überschüttete. Nell wußte, daß Kevins Mom mit einer Menge derselben Typen wie Nells Mom zusammengelebt hatte; ab und zu kam er mit blauen Augen an, die er sich ganz sicher nicht auf dem Spielplatz geholt hatte.
Nell hatte immer Angst vor Kevin gehabt. Aber als er heute anfing, seine große Show anzuziehen, sah er nur albern aus; so wie Dinosaurier manchmal, wenn er mit Belle trainierte. Der Ball flog, feucht von Spucke und gar nicht so schnell, in ihre Richtung. Kevin beschimpfte sie und nannte sie eine Fotze und alles mögliche, aber aus unerfindlichen Gründen hörte und beachtete Nell es gar nicht, sie sprang einfach auf den Ball zu, schlug ihn hart und legte das ganze Gewicht in ihren ausgestreckten Arm, wie Dojo es ihr beigebracht hatte. Sie traf den Ball so fest, daß sie es nicht einmal spürte; der Ball schoß in hohem Bogen davon, über Kevins Kopf hinweg, und danach mußte sie ihm nur noch ein paar Schläge verpassen, als er vorbeisauste, und schon hatte sie das Spiel gewonnen.
»Zwei Gewinnsätze«, sagte Kevin, und sie spielten wieder, mit demselben Ergebnis. Nun lachten alle Kinder über Kevin, der die Beherrschung verlor, ganz rot wurde und auf Nell losstürmte.
Aber Nell hatte gesehen, wie Kevin diese Taktik bei anderen Kindern anwandte, und wußte, daß sie nur funktionierte, weil alle anderen Kinder zu große Angst hatten, um sich zu bewegen. Dojo hatte Belle erklärt, daß die beste Methode, Dinosaurier zu besiegen, einfach darin bestand, ihm aus dem Weg zu gehen, so daß seine eigene Kraft ihn besiegte, und genau das machte Nell mit Kevin: Sie
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