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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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vom Donner gerührt. »Euer Gnaden!« rief Napier aus. »Selbstverständlich war mir bewußt, daß ihr moralischer Standpunkt sich radikal von unserem unterschied - aber ich erfahre zu meinem Erstaunen, daß sie die ersten Viktorianer wirklich und wahrhaftig
verurteilten.«
    »Selbstverständlich wurden sie verurteilt«, sagte Finkle-McGraw.
    »Weil die ersten Viktorianer scheinheilig waren«, sagte Hackworth, der begriffen hatte.
    Finkle-McGraw strahlte Hackworth an wie ein Lehrmeister seinen Lieblingsschüler. »Wie Sie sehen können, Major Napier, war meine Einschätzung des Scharfsinns von Mr. Hackworth nicht unbegründet.«
    »Obschon ich niemals etwas anderes vermutet hätte, Euer Gnaden«, sagte Major Napier, »war es dennoch erfreulich, einer Demonstration beizuwohnen.« Napier hob das Glas in Hackworths Richtung.
    »Weil sie scheinheilig waren«, sagte Finkle-McGraw, nachdem er seine Pfeife angezündet und ein paar gewaltige Rauchwolken himmelwärts gepafft hatte, »wurden die Viktorianer Ende des zwanzigsten Jahrhunderts verachtet. Selbstverständlich hatten sich viele Leute, die diesen Standpunkt teilten, selbst des schändlichsten Verhaltens schuldig gemacht, und doch sahen sie kein Paradoxon in ihren Ansichten, da sie selbst nicht scheinheilig waren - sie erhoben keine moralischen Maßstäbe und lebten nach keinen.«
    »Demnach waren sie den Viktorianern moralisch überlegen«, sagte der Major immer noch ein wenig unterbelichtet, »obwohl -besser gesagt,
weil
- sie gar keine Moral hatten.«
    Es folgte ein Augenblick des Schweigens, während an dem Kupfertisch ein allgemeines bestürztes Kopfschütteln anhub.
    »Wir sehen die Scheinheiligkeit ein wenig anders«, fuhr Finkle-McGraw fort. »In der Weltanschauung Ende des zwanzigsten Jahrhunderts war ein Scheinheiliger jemand, der strenge moralische Ansichten als Teil einer geplanten Täuschungskampagne vertrat – er selbst nahm diese Ansichten niemals ernst und mißachtete sie im Privatleben häufig. Selbstverständlich sind nicht alle Scheinheiligen so. Meistens geht es nach dem Motto: Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.«
    »Daß wir gelegentlich unseren eigenen festgesetzten Moralkodex übertreten«, sagte Major Napier, der alles geistig verarbeitete, »heißt nicht, daß wir unaufrichtig sind, wenn wir für diesen Kodex eintreten.«
    »Selbstverständlich nicht«, sagte Finkle-McGraw. »Es ist eigentlich ziemlich offensichtlich. Niemand hat je gesagt, daß es leicht wäre, strikte Verhaltensmaßregeln zu befolgen. Tatsächlich machen es gerade die Schwierigkeiten - die Fehltritte, die wir uns auf dem Weg leisten - so interessant. Der innere und ewige Widerstreit zwischen unseren grundsätzlichen Neigungen und den rigorosen Anforderungen unseres moralischen Systems sind durch und durch menschlich. Wie wir uns selbst in diesem Widerstreit verhalten, bestimmt letztendlich, wie wir im Lauf der Zeit von einer höheren Macht beurteilt werden.«
    Alle Männer schwiegen vorübergehend, füllten sich die Münder mit Bier oder Rauch und dachten über das Gesagte nach.
    »Ich muß den Schluß ziehen«, sagte Hackworth endlich, »daß man zu glauben scheint, diese Lektion in vergleichender Ethik - die ich für äußerst wohlformuliert halte und durchaus zu schätzen weiß –, stehe in gewisser Weise mit meiner derzeitigen Situation in Zusammenhang.«
    Die anderen Männer zogen überrascht die Brauen hoch, um, nicht sehr gekonnt, Überraschung zu heucheln. Der Dividenden-Lord wandte sich an Major Napier, der, schneidig und freudig erregt, das Wort ergriff.
    »Wir kennen nicht alle Umstände Ihrer Situation - wie Sie wissen, haben alle Atlanter ein Anrecht auf höfliche Behandlung durch alle Abteilungen der Streitkräfte, sofern sie nicht gegen die Stammesnormen verstoßen, und das bedeutet unter anderem, daß wir nicht herumlaufen und Leute unter eingehende Beobachtung stellen, nur weil wir neugierig sind, welche, äh,
Neigungen
sie hegen. In einer Ära, wo man alles überwachen kann, bleibt uns nichts anderes als die Höflichkeit. Freilich überwachen wir routinemäßig das Kommen und Gehen an den Grenzen. Vor nicht allzu langer Zeit weckte die Einreise eines Lieutenant Chang vom Büro des Bezirksrichters unsere Neugier. Er trug eine Plastiktüte mit einem arg mitgenommenen Zylinder bei sich. Lieutenant Chang begab sich ohne Umschweife zu Ihrem Haus, verbrachte eine halbe Stunde dort und verließ es ohne den Hut wieder.«
    Kaum war diese Runde des

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