Diamond Age - Die Grenzwelt
mit Major Napier. Sie gingen in den hinteren Teil, während sie herzliche, nichtssagende, mit Banalitäten angereicherte Floskeln wechselten. Napier trat behende vor ihn und öffnete eine kleine Tür an der rückwärtigen Wand. Drei Stufen führten in einen kleinen Erker mit Butzenscheiben an drei Seiten und einem einzelnen Tisch mit Kupferplatte in der Mitte. Ein Mann saß allein an diesem Tisch, und als Hackworth die Stufen hinunterging, stellte er fest, daß es sich um Lord Alexander Chung-Sik Finkle-McGraw handelte, der sich erhob, Hackworths Verbeugung erwiderte und ihn mit einem warmen und herzlichen Handschlag begrüßte; tatsächlich unternahm er so viele offensichtliche Bemühungen, Hackworth zu beruhigen, daß in vielerlei Hinsicht genau das Gegenteil erreicht wurde.
Weitere Floskeln, ein wenig zurückhaltender. Ein Kellner kam herein; Hackworth bestellte ein Steaksandwich, das heutige Tagesessen, und Napier nickte dem Kellner nur zu, um völligen Einklang mit Hackworth auszudrücken, was dieser als Geste freundschaftlicher Verbundenheit wertete. Finkle-McGraw aß nichts.
Hackworth hatte eigentlich gar keinen Hunger mehr. Es lag auf der Hand, daß das Königliche Oberkommando der Vereinigten Streitkräfte zumindest teilweise herausgefunden hatte, was passiert war, und Finkle-McGraw ebenfalls Bescheid wußte. Sie hatten beschlossen, ihn in der Abgeschiedenheit darauf anzusprechen, statt einfach den Hammer auf ihn heruntersausen zu lassen und ihn aus der Phyle zu verstoßen. Das hätte ihn mit grenzenloser Erleichterung erfüllen müssen, tat es aber nicht. Nach seinem Prozeß im Himmlischen Königreich schien alles so einfach gewesen zu sein. Er vermutete, daß seine Lage jetzt sehr viel komplizierter war.
»Mr. Hackworth«, sagte Finkle-McGraw nach Beendigung der Formalitäten mit einer Stimme, als wollte er die Versammlung zur Ordnung rufen, »bitte lassen Sie mich wissen, was Sie von Scheinheiligkeit halten.«
»Pardon. Scheinheiligkeit, Euer Gnaden?«
»Ja. Sie wissen schon.«
»Ich denke, sie ist ein Laster.«
»Ein kleines oder ein großes? Denken Sie gründlich nach - von Ihrer Antwort hängt vieles ab.«
»Ich denke, das kommt auf die jeweiligen Umstände an.«
»Was immer eine ungefährliche Antwort ist, Mr. Hackworth«, sagte der Dividenden-Lord vorwurfsvoll. Major Napier lachte etwas gekünstelt, da er nicht wußte, was er von dieser Wendung des Gesprächs halten sollte.
»Jüngste Ereignisse in meinem Leben haben meine Wertschätzung für die Tugend des ungefährlichen Wegs gestärkt«, sagte Hackworth. Die beiden anderen kicherten wissend.
»Wissen Sie, als ich ein junger Mann war, galt Scheinheiligkeit als schlimmstes aller Laster«, sagte Finkle-McGraw. »Das lag einzig und allein am moralischen Relativismus. Sehen Sie, in jenem Klima stand es einem nicht zu, andere zu kritisieren – immerhin, wenn es kein absolutes Richtig oder Falsch gibt, welche Basis gäbe es dann für Kritik?«
Finkle-McGraw machte eine Pause, da er wußte, er hatte die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Publikums, und holte eine Kürbispfeife und verschiedenes damit zusammenhängendes Zubehör aus seiner Tasche. Während er fortfuhr, stopfte er die Pfeife mit einer lederbraunen Tabakmischung, die so köstlich duftete, daß Hackworth das Wasser im Mund zusammenlief. Er war versucht, sich etwas davon in den Mund zu löffeln.
»Nun, das führte zu einer Menge allgemeiner Frustration, denn die Menschen sind von Natur aus tadelsüchtig und lieben nichts mehr, als die Unzulänglichkeiten anderer zu kritisieren. Aus diesem Grund stürzten sie sich auf die Scheinheiligkeit und erhoben sie von einer läßlichen Sünde in den Rang der Königin aller Laster. Denn, sehen Sie, selbst wenn es kein Richtig oder Falsch gibt, kann man Gründe finden, einen anderen Menschen zu kritisieren, indem man vergleicht, was er sagt und wie er tatsächlich handelt. In diesem Falle maßt man sich kein Urteil darüber an, ob seine Ansichten oder die Moral seines Verhaltens richtig oder falsch sind - man weist lediglich daraufhin, daß er etwas predigt, aber etwas anderes tut. In meiner Jugendzeit lief praktisch der gesamte politische Diskurs darauf hinaus, die Scheinheiligkeit auszurotten.
Sie können sich nicht vorstellen, was man über die ursprünglichen Viktorianer sagte. Wenn man damals jemanden als Viktorianer bezeichnete, war es fast so, als hätte man ihn als Nazi oder Faschisten beschimpft.«
Hackworth und Major Napier schienen
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