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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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zu anderen wachsen; sie hatte hellbraune Augen, die im Schein des Feuers orangerot leuchteten und mit ihrer leichten Schräge ein wenig wild wirkten. Gwendolyn fiel es schwer, den Blickkontakt zu unterbrechen; sie fühlte sich wie ein gefangener Schmetterling, der durch das Vergrößerungsglas in das ruhige, scharfe Auge des Naturwissenschaftlers sieht.
    »Schokolade schmeckt gut«, sagte Nell. »Die Frage ist, brauche ich sie?«
    Es folgte eine recht lange Pause in der Unterhaltung, während Gwendolyn überlegte, was sie darauf antworten sollte. Nell schien nicht auf eine Antwort zu warten; sie hatte ihre Meinung gesagt, und damit war das Thema für sie erledigt.
    »Nun«, sagte Gwendolyn schließlich, »falls du zu der Erkenntnis kommst, daß du
etwas
brauchst, sollst du wissen, daß ich dir gerne helfen werde.«
    »Ihr Angebot ist überaus freundlich. Ich stehe in Ihrer Schuld, Mrs. Hackworth«, sagte Nell. Sie sagte es perfekt wie eine Prinzessin in einem Buch.
    »Nun gut. Guten Tag«, sagte Gwendolyn. Sie nahm Fiona an der Hand und führte sie nach oben. Fiona bummelte auf eine Weise, die fast perfekt darauf angelegt war, sie zu ärgern, und reagierte lediglich mit Kopfschütteln oder Nicken auf die Fragen ihrer Mutter, weil sie, wie immer, mit den Gedanken anderswo war. Als sie ihre Unterkunft im Gästeflügel erreicht hatten, brachte Gwendolyn Fiona für ein Mittagsschläfchen ins Bett, dann setzte sie sich an den Sekretär und ging ein wenig unerledigte Post durch. Aber nun stellte Mrs. Hackworth fest, daß auch sie mit den Gedanken anderswo war, da sie über diese drei ausgesprochen seltsamen Mädchen nachdenken mußte - die drei klügsten Mädchen in Miss Mathesons Akademie –, die alle eine überaus merkwürdige Beziehung zu ihrer Fibel hatten. Ihr Blick schweifte von dem Mediatronpapier auf dem Sekretär zum Fenster hinaus und über die Heidelandschaft hinweg, wo sanfter Regen fiel. Sie grübelte fast eine ganze Stunde über Mädchen und Fibeln nach.
    Dann fiel ihr die Versicherung ein, die ihr Gastgeber ihr heute nachmittag gegeben und die sie zu dem Zeitpunkt gar nicht richtig verarbeitet hatte: Diese Mädchen waren nicht seltsamer als andere Mädchen, und wenn man für ihr Benehmen die Fibel verantwortlich machte, lag man völlig falsch.
    Erleichtert nahm sie ihren silbernen Füllfederhalter zur Hand und schrieb einen Brief an ihren abwesenden Mann, der ihr noch nie so fern gewesen zu sein schien.
     

Miranda erhält eine ungewöhnliche Raktivnachricht;
eine Fahrt durch die Straßen von Shanghai;
das Hotel Cathay;
eine kultivierte Soiree;
Carl Hollywood stellt sie zwei ungewöhnlichen Figuren vor.
    Es war wenige Minuten vor Mitternacht, und Miranda wollte ihre Nachtschicht gerade beenden und ihre Körperbühne räumen. Noch war Freitag. Nell hatte offenbar beschlossen, nicht die ganze Nacht durchzumachen.
    Unter der Woche, wenn sie Schule hatte, ging Nell normalerweise zwischen halb elf und elf Uhr ins Bett, aber in der Nacht von Freitag auf Samstag beschäftigte sie sich immer so intensiv mit der Fibel, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte, vor sechs oder sieben Jahren, als alles angefangen hatte. Im Augenblick steckte Nell in einem Teil der Geschichte, der frustrierend für sie sein mußte, da sie versuchte, die gesellschaftlichen Rituale eines recht bizarren Kults von Feen zu lernen, die sie in ein unterirdisches Labyrinth geworfen hatten. Sie würde schließlich dahinterkommen – wie immer–, aber nicht heute nacht.
    Miranda blieb noch anderthalb Stunden in der Bühne und spielte eine Rolle in einem Samurai-Raktiven, der in Japan ziemlich populär war – sie war eine platinblonde Missionarstochter, die Ronin aus Nagasaki entführt hatten. Sie mußte nichts weiter tun, als ziemlich viel kreischen und sich schließlich von einem guten Samurai retten lassen. Jammerschade, daß sie kein Nipponesisch sprach und (darüber hinaus) nicht mit der Theaterkultur dieses Landes vertraut war, denn angeblich machten sie ein paar radikale und interessante Dinge mit
karamaku –
»leerer Bildschirm« oder »leerer Akt«. Vor acht Jahren hätte sie die einstündige Luftschiffahrt nach Nippon auf sich genommen und die Sprache gelernt. Vor vier Jahren wäre sie wenigstens sauer auf sich selbst gewesen, weil sie diese abscheuliche Rolle spielte. Aber heute leierte sie ihre Textzeilen auf Stichwort herunter und nahm die Gage, zusammen mit einem ordentlichen Trinkgeld und der unausweichlichen Notiz des

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