Diamond Age - Die Grenzwelt
immer mehr befremdliche Bilder und Emotionen in diesen Briefen auf. Sie sind – bizarr. Ich fürchte um die geistige Stabilität meines Mannes und um die Aussichten eines jeden Unterfangens, das von seinem Urteilsvermögen abhängen könnte. Ich würde nicht zögern, mich mit seiner Abwesenheit abzufinden, so lange sie erforderlich sein mag, damit er seinen Pflichten nachkommen kann, muß jedoch gestehen, daß die Unsicherheit für mich äußerst unangenehm geworden ist.«
»Die Angelegenheit ist mir nicht völlig unbekannt, und ich denke nicht, daß ich jemandes Vertrauen mißbrauche, wenn ich Ihnen sage, daß Sie nicht die einzige Person sind, die von der Dauer seiner Abwesenheit überrascht wurde«, sagte Lord Finkle-McGraw. »Falls ich mich nicht sehr irre, haben diejenigen, die seine Mission planten, nicht damit gerechnet, daß sie so lange dauern würde. Es mag Ihre Bedenken vielleicht ein wenig zerstreuen, wenn ich Ihnen mitteile, daß niemand davon ausgeht, er könnte in Gefahr sein.«
Mrs. Hackworth lächelte pflichtschuldig, aber nicht sehr lange.
»Die kleine Fiona scheint mit der Abwesenheit ihres Vaters gut fertig zu werden.«
»Oh, aber für Fiona ist er nie weggegangen«, sagte Mrs. Hackworth. »Das liegt an dem Buch, wissen Sie, diesem raktiven Buch. Als John es ihr unmittelbar vor seiner Abreise gegeben hat, sagte er ihr, daß es ein Zauberbuch sei und er mit ihr durch dieses Buch sprechen würde. Ich weiß, das ist selbstverständlich Unsinn, aber sie glaubt wirklich, daß ihr Vater ihr, wenn sie dieses Buch aufschlägt, eine Geschichte vorliest oder gar in einer imaginären Welt mit ihr spielt, daher hat sie ihn überhaupt nicht vermißt. Ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß es sich um nichts weiter als ein computerisiertes Medienprogramm handelt.«
»Ich neige zu der Überzeugung, daß es in diesem Fall eine weise Entscheidung sein könnte, sie im unklaren zu lassen«, sagte Finkle-McGraw.
»Bisher hat es ihr gute Dienste geleistet. Doch je mehr Zeit vergeht, desto zerstreuter wird sie, und sie ist immer weniger geneigt, sich um ihre Schularbeiten zu kümmern. Sie lebt in einer Phantasiewelt und ist glücklich dort. Aber ich fürchte, sie wird es nicht gut aufnehmen, wenn sie erfährt, daß es sich eben in der Tat nur um eine Phantasiewelt handelt.«
»Sie dürfte kaum die erste junge Dame sein, die eine blühende Phantasie erkennen läßt«, sagte der Lord. »Früher oder später kommen alle zur Vernunft.«
Wenig später kehrten die drei Forscher und ihre erwachsenen Aufsichtspersonen zur Villa zurück. Lord Finkle-McGraws einsame private Heidelandschaft war den Mädchen so fremd wie der Geschmack von Single Malt Whisky, gotische Architektur, Pastellfarben und Symphonien von Bruckner. Als sie festgestellt hatten, daß er keine rosa Einhörner, Zuckerwattespender, Teenie-Bands oder fluoreszierende grüne Wasserfälle gab, verloren sie das Interesse und gingen zum Haus zurück - das an sich auch keinerlei Ähnlichkeit mit Disneyland aufwies, in dem aber eine geübte und selbstbewußte Anwenderin wie Elizabeth ein paar angemessene Entschädigungen finden konnte, zum Beispiel Küchenpersonal rund um die Uhr, das (neben einer großen Zahl anderer und vollkommen nutzloser Fähigkeiten) imstande war, heiße Schokolade zuzubereiten.
Nachdem sie sich so ausführlich, wie sie sich trauten, über das Verschwinden von John Percival Hackworth unterhalten und das Hindernis ohne Schaden umschifft hatten, abgesehen von roten Gesichtern und feuchten Augen, sprachen Lord Finkle-McGraw und Mrs. Hackworth in beiderseitigem Einvernehmen über weniger heiße Eisen. Die Mädchen kamen herein, um heiße Schokolade zu trinken, danach wurde es für die Gäste Zeit, die ihnen zugewiesenen Quartiere aufzusuchen, wo sie sich frisch machen und auf das Hauptereignis vorbereiten konnten: das Abendessen.
»Ich kümmere mich gern um das andere Mädchen – Nell –, bis Essenszeit ist«, sagte Mrs. Hackworth. »Mir ist aufgefallen, daß der Gentleman, der sie heute morgen hergebracht hat, noch nicht von der Jagd zurückgekommen ist.«
Der Lord kicherte, als er sich vorstellte, wie General Moore einem kleinen Mädchen half, sich zum Dinner anzukleiden. Immerhin kannte er seine Grenzen, aus ebendiesem Grund verbrachte er den Tag damit, in den entlegenen Weiten des Anwesens zu jagen. »Die kleine Nell ist durchaus imstande, auf sich allein aufzupassen; möglicherweise ist Ihr überaus großzügiges Angebot
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