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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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zahlenden Kunden - einem Manager in mittleren Jahren aus Osaka, der sie näher kennenlernen wollte. Selbstverständlich machte es dieselbe Technologie, derentwegen Miranda Nell nicht finden konnte, ihm unmöglich, Miranda zu finden.
    Als sie gerade ihre Sachen zusammensuchte, leuchtete ein dringendes Angebot auf dem Bildschirm auf. Sie warf einen Blick auf den Anfrage-Bildschirm; das Engagement wurde nicht berauschend bezahlt, war aber nur von äußerst kurzer Dauer. Darum akzeptierte sie. Sie fragte sich, wer ihr dringende Jobangebote schickte; vor sechs Jahren war das häufig vorgekommen, aber seit sie in der Abendschicht arbeitete, war sie weitgehend zu einer x-beliebigen westlichen Schlampe mit einem unaussprechlichen Namen geworden.
    Es sah aus wie eine Art von schrägem Boheme-Stück, ein Rakteure-Workshop-Projekt aus ihrer fernen Vergangenheit: eine surrealistische Landschaft mit abstrakten, bunten geometrischen Figuren, aus deren flachen Oberflächen mitunter Gesichter hervortraten, die ihren Text sprachen. Die Gesichter wurden texturkartographiert, als würden sie ein komplexes Make-up tragen oder wären nach der Beschaffenheit von Orangenschalen, Krokodilleder oder Zibetfrucht gestaltet.
    »Wir vermissen sie«, sagte eines der Gesichter mit einer Stimme, die Miranda entfernt bekannt vorkam, aber zu einem unheimlichen, geisterhaft hallenden Stöhnen anschwoll.
    »Wo ist sie?« fragte ein anderes Gesicht, das ihr ziemlich bekannt vorkam.
    »Warum hat sie uns verlassen?« sagte ein drittes Gesicht, in dem Miranda trotz der Texturkarte und des Stimmverzerrers Carl Hollywood erkannte.
    »Wenn sie doch nur zu unserer Party kommen würde!« rief jemand anders, und Miranda erkannte Christine Sowieso, ein Ensemblemitglied des Parnasse.
    Der Prompter zeigte ihr den Text:
Tut mir leid, Leute, aber ich muß heute nacht wieder Überstunden machen.
    »Okay, okay«, sagte Miranda. »Ich improvisiere. Wo seid ihr?«
    »Bei der Party des Ensembles, Dummerchen!« sagte Carl. »Draußen wartet ein Taxi auf dich - wir haben uns sogar ein Halbspurfahrzeug geleistet!«
    Miranda loggte sich aus dem Raktiven aus, räumte ihre Körperbühne weiter auf und ließ sie offen, damit ein anderes Mitglied des Ensembles ein paar Stunden später kommen und die Frühschicht übernehmen konnte. Sie absolvierte den spiralförmigen Spießrutenlauf zwischen Stuckcherubim, Musen und Trojanern, lief durch die Halle, wo zwei Jungrakteure mit blutunterlaufenen Augen den Abfall der abendlichen Live-Darbietung wegräumten, und zur Vordertür hinaus. Auf der Straße stand, im widerlichen pink-und-purpurfarbenen Licht des Baldachins, ein Halbspurtaxi mit eingeschalteten Scheinwerfern.
    Sie war leicht überrascht, als das Taxi Richtung Bund fuhr, und nicht zu den auf halber Höhe liegenden Bezirken von Pudong, wo stammeslose Westlinge mit niederen Einkommen für gewöhnlich ihre Wohnungen hatten. Normalerweise fanden Partys des Ensembles im Wohnzimmer von jemandem statt.
    Dann rief sie sich ins Gedächtnis, daß das Parnasse heute ein erfolgreiches Theater war, daß sie irgendwo ein ganzes Gebäude besaßen, in dem Entwickler saßen und an neuen Raktiven arbeiteten, daß die aktuelle Inszenierung von
Macbeth
eine Menge Geld gekostet hatte. Carl war nach Tokio und Shenzhen und San Francisco geflogen, um Investoren zu suchen, und nicht mit leeren Händen zurückgekehrt. Die Vorstellung war den ganzen ersten Monat hindurch ausgebucht.
    Aber heute abend hatten sie viele leere Sitze im Haus gehabt, weil sich das Premierenpublikum überwiegend aus Nicht-Chinesen zusammensetzte, und Nicht-Chinesen gingen, seit Gerüchte über die Fäuste der Rechtschaffenen Harmonie kursierten, nicht mehr gern auf die Straße.
    Miranda war ebenfalls nervös, auch wenn sie es nie zugegeben hätte. Das Taxi bog um eine Ecke, und das Licht der Scheinwerfer glitt über eine Gruppe junger chinesischer Männer, die sich unter einem Torbogen tummelten, und als einer von ihnen eine Zigarette zum Mund hob, konnte sie ein scharlachrotes Band sehen, das er sich um das Handgelenk gebunden hatte. Sie ballte mit klopfendem Herzen die Fäuste und mußte mehrmals heftig schlucken. Aber die jungen Männer konnten nicht durch die verspiegelten Fenster des Taxis sehen. Niemand stürmte auf sie zu, schwenkte Waffen und rief:
»Sha! Sha!«
    Das Hotel Cathay stand mitten am Bund, an der Kreuzung mit der Nanjing Road, dem Rodeo Drive des Fernen Ostens. So weit Miranda sehen konnte - schätzungsweise

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