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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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ebenso überflüssig wie unerwünscht. Vielleicht würde sie die Zwischenzeit aber gerne mit Fiona verbringen.«
    »Verzeihen Sie mir, Euer Gnaden, aber ich bin erstaunt, daß Sie in Erwägung ziehen, ein Kind wie sie fast den ganzen Nachmittag unbeaufsichtigt zu lassen.«
    »Ich versichere Ihnen, sie würde es nicht so sehen, aus demselben Grund, weshalb die kleine Fiona nicht denkt, daß ihr Vater jemals das Haus verlassen hat.«
    Mrs. Hackworths Gesichtsausdruck, als sie diese Worte hörte, deutete auf alles andere als vollständiges Begreifen hin. Aber bevor sie ihrem Gastgeber den irrigen Charakter seiner Ansichten deutlich zu machen vermochte, wurden sie vom Lärm eines schrillen und erbitterten Konflikts aufgeschreckt, der sich auf dem Flur abspielte und in ihre Richtung kam. Die Tür schwang halb auf, und Colin Finkle-McGraw trat ein. Sein Gesicht war noch gerötet vom Wind auf der Heide, und er ließ ein gezwungenes Lächeln sehen, das nicht weit von einem Grinsen entfernt war; obschon er wiederholt die Stirn runzelte, als Elizabeth einen besonders gellenden Wutschrei ausstieß. In einer Hand hielt er ein Exemplar der
Illustrierten Fibel für die junge Dame.
Hinter ihm konnte man Mrs. Finkle-McGraw sehen, die Elizabeth mit einem Griff am Arm festhielt, der an die Zange eines Hufschmieds erinnerte, mit der er ein rotglühendes Eisen festhält, bevor er es ins Wasser taucht; das strahlende, hitzige Gesicht des kleinen Mädchens trug seinen Teil zu dem Vergleich bei. Die Frau hatte sich hinabgebeugt, so daß ihr Gesicht auf einer Höhe mit dem von Elizabeth war, und zischte ihr etwas in einem leisen, maßregelnden Tonfall zu.
    »Entschuldige, Vater«, sagte der jüngere Finkle-McGraw in einem mit nicht sehr überzeugendem künstlichen Humor untermalten Tonfall. »Offensichtlich ist es Zeit für ein Nickerchen.« Er nickte der anderen zu. »Mrs. Hackworth.« Dann sah er wieder seinem Vater ins Gesicht und folgte dem Blick des Lords nach unten, zu dem Buch. »Sie war unhöflich zu den Dienstboten, Vater, darum haben wir ihr das Buch für den Rest des Nachmittags abgenommen. Das ist die einzige Bestrafung, die zu wirken scheint – wir wenden sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit an.«
    »Dann wirkt sie vielleicht nicht ganz so gut, wie du denkst«, sagte Lord Finkle-McGraw, der traurig und nachdenklich aussah.
    Colin Finkle-McGraw beschloß, diese Bemerkung als einen aufmunternden Scherz vorwiegend an die Adresse von Elizabeth zu werten – freilich müssen Eltern kleiner Kinder notwendigerweise einen völlig anderen Sinn für Ironie haben als der ungeschwächte Teil der Menschheit.
    »Wir können nicht zulassen, daß sie ihr ganzes Leben zwischen den Umschlägen deines Zauberbuchs verbringt, Vater. Es ist wie ein kleines interaktives Kaiserreich, in dem Elizabeth die Kaiserin ist, die alle möglichen schrecklichen Urteile über ihre gehorsamen Untergebenen verhängt. Es ist wichtig, sie von Zeit zu Zeit in die Wirklichkeit zurückzuholen, damit sie den Sinn für die richtige Perspektive nicht verliert.«
    »Richtige Perspektive. Nun gut, ich freue mich darauf, dich und Elizabeth - mit ihrer neuen Perspektive - beim Abendessen zu sehen.«
    »Guten Tag, Vater. Mrs. Hackworth«, sagte der jüngere Mann und machte die Tür zu, ein schweres Meisterwerk der Holzschnittkunst und hinreichend wirksame Schalldämmung.
    Gwendolyn Hackworth sah nun etwas in Lord Finkle-McGraws Gesicht, was in ihr den Wunsch auslöste, unverzüglich das Zimmer zu verlassen. Nachdem sie die obligatorischen Höflichkeiten hinter sich gebracht hatte, tat sie genau das. Sie holte Fiona aus der Ecke beim Kamin, wo sie den Rest ihrer heißen Schokolade genoß. Nell saß ebenfalls dort und las in ihrem Exemplar der Fibel, und Gwendolyn stellte erstaunt fest, daß sie ihre Tasse überhaupt nicht angerührt hatte.
    »Was ist das?« rief sie mit einer, wie sie hoffte, hinreichend zuckersüßen Stimme. »Ein Mädchen, das keine heiße Schokolade mag?«
    Nell war völlig in ihr Buch vertieft, und Gwendolyn dachte einen Augenblick, daß sie ihre Worte gar nicht gehört hatte. Doch Sekunden später wurde deutlich, daß das Mädchen ihre Antwort lediglich hinauszögerte, bis sie zum Ende ihres Kapitels gekommen war. Dann hob sie den Blick langsam von der Seite des Buchs. Nell war ein in dem Sinn ziemlich hübsches Mädchen, wie es fast alle Mädchen sind, bevor ungebremste Hormonschübe dafür sorgen, daß verschiedene Teile des Gesichts unproportional

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