Diamond Age - Die Grenzwelt
ihr, daß es nützlich sein könnte; vielleicht entsprang es auch dem Bedürfnis der Künstlerin, etwas zu schaffen, das sie überdauerte, und sei es nur für ein paar Minuten. Sie fing damit an, daß sie die gesamte Werbung auf den oberen Stockwerken des Wolkenkratzers löschte. Dann fertigte sie eine simple Strichzeichnung in Primärfarben an: ein Wappen in Blau, darin ein Buch in Rot und Weiß; gekreuzte Schlüssel in Gold; ein Samenkorn in Braun. Sie ließ dieses Bild zwischen dem hundertsten und zweihundertsten Stock auf allen Seiten des Wolkenkratzers erstrahlen.
Dann versuchte sie sich einen Fluchtplan auszudenken. Möglicherweise parkten Luftschiffe auf dem Dach. Mit Sicherheit standen Fäuste da oben Wache, aber vielleicht konnte sie sie mit einer Mischung aus Verstohlenheit und Schnelligkeit überwinden. Sie benutzte die Feuertreppe, um sich zum nächsten Stock vorzuarbeiten, dann zum nächsten und übernächsten. Zwei Treppenfluchten höher konnte sie die Wachen der Fäuste, die Mah Jongg spielten, auf dem Dach reden hören. Viele Stockwerke weiter unten hörte sie eine Schar Fäuste, die sich Stockwerk für Stockwerk nach oben vorarbeiteten und nach ihr suchten.
Sie überlegte gerade, wie sie weiter vorgehen sollte, als die Wachen auf dem Dach unvermittelt durch Befehle unterbrochen wurden, die aus dem Funkgerät plärrten. Mehrere Fäuste kamen die Treppe heruntergelaufen und riefen aufgeregt durcheinander. Nell, die im Treppenhaus in der Falle saß, machte sich bereit, ihnen einen Hinterhalt zu legen, wenn sie auf sie zukamen, aber statt dessen rannten sie in das oberste Stockwerk zu den Aufzügen. Binnen einer Minute war ein Fahrstuhl gekommen und brachte sie weg. Nell wartete eine Weile und horchte, aber sie konnte auch das Kontingent von unten nicht mehr vorrücken hören.
Sie ging die letzte Treppe hinauf und betrat das Dach des Gebäudes, wo sie die frische Luft ebenso belebte wie die Tatsache, daß das Dach vollkommen menschenleer war. Sie ging zum Dachrand und sah fast eine halbe Meile nach unten auf die Straße. In den schwarzen Fenstern eines verlassenen Wolkenkratzers gegenüber konnte sie das Spiegelbild von Prinzessin Nells Wappen sehen.
Nach etwa einer oder zwei Minuten fiel ihr auf, daß sich langsam so etwas wie eine Schockwelle tief unten die Staße entlangbewegte, die sich alle paar Minuten von einem Block zum anderen vorarbeitete. Es war schwer, auf die Entfernung Einzelheiten zu erkennen. Auf jeden Fall handelte es sich um eine straff organisierte Gruppe von Fußgängern, die alle ähnliche dunkle Kleidung trugen, sich durch die Meute der Flüchtlinge drängten und die erschrockenen Barbaren auf die Postenkette der Fäuste zu oder in die Hallen der ausgefallenen Gebäude trieben.
Nell betrachtete diesen Anblick einige Minuten wie hypnotisiert. Dann sah sie zufällig in eine andere Straße und beobachtete dort dasselbe Phänomen.
Sie ging rasch einmal um das Dach des Gebäudes herum. Alles in allem näherten sich mehrere Kolonnen unaufhaltsam dem Fundament des Gebäudes, auf dem Nell stand.
Schließlich durchbrach eine der Kolonnen die letzte Barriere der kopflosen Flüchtlinge und erreichte den Rand des freien Platzes um Nells Gebäude herum, wo sie den Posten der Fäuste gegenüberstanden. An dieser Stelle kam die Kolonne unvermittelt zum Stehen; alle warteten ein paar Minuten, sammelten sich und warteten, daß die anderen Kolonnen aufrückten.
Nell hatte zuerst vermutet, daß es sich bei diesen Kolonnen um Truppen zur Verstärkung der Fäuste handelte, die sich diesem Gebäude näherten, das eindeutig als Hauptquartier ihres letzten Feldzugs gegen die Küstenrepublik dienen sollte. Aber es wurde bald deutlich, daß diese Neuankömmlinge aus einem anderen Grund gekommen waren. Als ein paar Minuten unerträglicher Spannung in fast völliger Stille verstrichen waren, stürmten die einzelnen Züge plötzlich wie auf ein unhörbares Signal hin den Vorplatz. Als sie die engen Straßen hinter sich ließen, schwärmten sie in fächerförmiger Formation aus, bezogen Stellung mit der Präzision einer gedrillten Spezialeinheit und bedrängten die plötzlich zu Tode erschrockenen und desorganisierten Fäuste, während sie in lautstarkes Kampfgebrüll ausbrachen. Als das Geräusch die zweihundert Stockwerke bis zu Nell hinaufgedrungen war, spürte sie, wie sich ihre Nackenhärchen aufrichteten, denn es handelte sich nicht um das tiefe, herzhafte Brüllen erwachsener Männer, sondern um
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