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Diamond Age - Die Grenzwelt

Titel: Diamond Age - Die Grenzwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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das schrille Kreischen Tausender junger Mädchen, schneidend und durchdringend wie das Quietschen eines Dudelsackorchesters.
    Es war Nells Stamm, und sie waren gekommen, um ihre Anführerin zu retten. Nell drehte sich auf dem Absatz herum und ging zur Treppe.
    Als sie das Erdgeschoß erreicht hatte und etwas leichtsinnig in die Halle stürmte, hatten die Mädchen die Wand des Gebäudes an mehreren Stellen durchbrochen und bedrängten die letzten Verteidigungslinien. Sie bewegten sich in Vierergruppen. Ein Mädchen (das größte) rannte auf den Gegner zu und zielte mit einem gespitzten Bambusstab auf sein Herz. Wenn die Aufmerksamkeit des Gegners auf diese Weise abgelenkt war, näherten sich ihm zwei andere Mädchen (die kleinsten) von den Seiten. Jedes Mädchen umklammerte eines seiner Beine, dann hoben sie ihn gemeinsam vom Boden hoch. Das vierte Mädchen (das schnellste) hatte sich inzwischen um das Opfer herumgeschlichen und bohrte dem Opfer ein Messer oder eine andere Waffe in den Rücken. Nell beobachtete, wie diese Technik etwa ein halbes dutzendmal angewendet wurde, und sie klappte immer; keines der Mädchen bekam je mehr als einen Bluterguß oder eine Schürfwunde ab.
    Plötzlich verspürte Nell einen Anfall heftiger Panik, als sie dachte, sie würden dasselbe mit
ihr
machen; aber als sie sie hochgehoben hatten, erfolgte weder von vorne noch von hinten ein Angriff, obwohl viele Mädchen von allen Seiten herbeigestürmt kamen und alle ihre geringen Körperkräfte zu dem gemeinsamen Ziel vereinten, Nell hoch in die Luft zu heben. Noch während die letzten versprengten Fäuste in den Nischen und Winkeln der Halle aufgespürt und zur Strecke gebracht wurden, wurde Nell auf den Schultern ihrer kleinen Schwestern zur Tür hinaus auf den Vorplatz getragen, wo schätzungsweise hunderttausend Mädchen - Nell konnte die Regimenter und Brigaden nicht zählen –unisono auf die Knie sanken, als wären sie von einem Götterwind erfaßt worden, und ihre Bambusstangen, Messer, Bleirohre und Tschakos präsentierten. Die provisorischen Befehlshaberinnen ihrer Divisionen standen in vorderster Reihe, ebenso wie ihre provisorische Verteidigungs-, Außen- und Forschungsministerin, die sich ausnahmslos vor Nell verbeugten, aber nicht mit einer chinesischen oder viktorianischen Verbeugung, sondern mit einer Variante dazwischen, die sie sich selbst ausgedacht hatten.
    Nell hätte sprachlos und gelähmt vor Erstaunen sein sollen, aber das war sie nicht; zum erstenmal in ihrem Leben begriff sie, welchen Zweck ihr irdisches Dasein hatte, und akzeptierte ihre Position bereitwillig. Eben noch war ihr Leben bedeutungslos und gescheitert gewesen, und im nächsten Augenblick hatte es einen glorreichen Sinn bekommen. Sie fing an zu sprechen, und die Worte kamen ihr so mühelos über die Lippen, als würde sie sie aus der Fibel ablesen. Sie akzeptierte den Treueschwur der Mäusearmee, beglückwünschte sie zu ihren großartigen Taten und zeigte mit ausholenden Handbewegungen über den Platz und die Köpfe ihrer kleinen Schwestern zu den Tausenden und Abertausenden gestrandeter Flüchtlinge aus New Atlantis, Nippon, Israel und allen anderen Äußeren Stämmen. »Unsere höchste Pflicht ist es, sie zu beschützen«, sagte sie. »Zeigt mir den Zustand der Stadt und aller, die sich darin aufhalten.«
    Sie wollten sie tragen, aber Nell sprang auf das Kopfsteinpflaster des Platzes und ging von dem Gebäude weg auf die Reihen zu, die sich teilten und ihr auswichen. Auf den Straßen von Pudong wimmelte es von hungrigen und ängstlichen Flüchtlingen, durch deren Schar sie schritt, in schlichter Bauernkleidung, mit ihrem und dem Blut von anderen besudelt, zerbrochene Handschellen an ihren Gelenken baumelnd, gefolgt von ihren Generälinnen und Ministerinnen, die Barbarenprinzessin mit ihrem Buch und ihrem Schwert.
     

Carl Hollywood macht einen Spaziergang zum Ufer.
    Carl Hollywood wurde durch ein Klingen in den Ohren und ein Brennen in der Wange geweckt, als dessen Ursache sich ein zwei Zentimeter langer Glassplitter erwies, der sich in seine Haut gebohrt hatte. Als er sich aufrichtete, ächzte und schepperte sein Bett und warf eine immense Last von Glas ab, und ein übelriechender Wind von den zertrümmerten Fenstern her wehte ihm über das Gesicht. Alte Hotels hatten ihren Charme, aber auch ihre Nachteile - zum Beispiel Fensterscheiben aus antiken Materialien.
    Glücklicherweise hatte ihm ein alter Wyoming-Instinkt am Vorabend geraten, die Stiefel

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