Diamond Age - Die Grenzwelt
schmale Tür ein, die von chronisch Unterernährten für chronisch Unterernährte gebaut worden war. Das Interieur entsprach dem Ambiente einer rustikalen Blockhütte an einem See. Richter Fang war schon einmal hier gewesen, in Zivil, aber heute hatte er eine Robe über seinen anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug angelegt – aus hinreichend dezentem Brokat und unscheinbar verglichen mit dem, was die Leute in China trugen. Dazu trug er einen schwarzen Hut mit aufgesticktem Einhorn, das man in mancher Gesellschaft wahrscheinlich auf eine Stufe mit Regenbogen und Elfen gestellt hätte, hier aber als das begreifen würde, was es war, nämlich als uraltes Symbol für Scharfsinn. Man durfte davon ausgehen, daß Dr. X die Botschaft verstand.
Das Personal des Teehauses hatte genügend Zeit, sein Eintreffen zur Kenntnis zu nehmen, während er die endlosen Windungen der Brücke hinter sich brachte. Eine Art Geschäftsführer und zwei Kellnerinnen fanden sich vor der Tür ein und verneigten sich tief, als er sich ihnen näherte.
Richter Fang war mit Cheerios, Hamburgern und Jumboburritos, prallvoll mit Bohnen und Fleisch, groß geworden. Er war knapp unter zwei Meter groß. Sein Bart war ungewöhnlich dicht, er ließ ihn schon seit ein paar Jahren wachsen, und das Haar hing ihm bis zwischen die Schulterblätter. Diese Elemente, dazu Hut und Robe in Verbindung mit der Macht, die ihm der Staat verliehen hatte, verliehen ihm eine gewisse Aura, deren er sich wohl bewußt war. Er versuchte, nicht allzu selbstgefällig zu sein, da dies allen Prinzipien des Konfuzianismus widersprochen hätte. Andererseits drehte sich der Konfuzianismus ausschließlich um Hierarchie, und von allen in hohen Positionen wurde erwartet, daß sie sich einer gewissen Würde befleißigten. Falls erforderlich, war Richter Fang dazu imstande. Er griff jetzt darauf zurück, damit er den besten Tisch im Erdgeschoß bekam, in einer Ecke, wo die winzigen alten Fenster eine hübsche Aussicht auf die angrenzenden Gärten der Ming-Zeit boten. Er befand sich immer noch in der Küstenrepublik in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Aber er hätte ebensogut im Mittleren Königreich vergangener Zeiten sein können, was er allen Absichten und Zwecken zufolge auch war.
Chang und Miss Pao verabschiedeten sich von ihrem Meister und baten um einen Tisch im ersten Stock, eine schmale und furchteinflößende Treppe hinauf; sie ließen Richter Fang in Ruhe, machten aber gleichzeitig Dr. X, der gerade oben saß, wie immer um diese Tageszeit, seinen Tee trank und sich mit seinen ehrwürdigen Vertrauten beriet, mit Nachdruck auf ihre Anwesenheit aufmerksam.
Als Dr. X eine halbe Stunde später herunterkam, schien er dennoch entzückt und überrascht zu sein, den ziemlich berühmten und allseits geachteten Richter Fang in seiner Abgeschiedenheit sitzen zu sehen, wie er auf den See hinausschaute, wo die Fischschwärme funkelnd umherschwammen. Als er sich dem Tisch näherte, um seinen Respekt zu bezeugen, bat Richter Fang ihn, sich zu setzen, und nach einer mehrminütigen feinsinnigen Verhandlung darüber, ob dies als ein unverzeihliches Eindringen in die Privatsphäre des Richters zu betrachten sei, setzte sich Dr. X schließlich dankbar, zögernd und mit allem gebührenden Respekt.
Es folgte ein längerer Diskurs der beiden Männer darüber, welcher es als größere Ehre betrachten dürfe, in den Genuß der Gesellschaft des anderen zu kommen, gefolgt von einer erschöpfenden Diskussion über die Vorzüge der verschiedenen Tees, aus welchen sich das Angebot zusammensetzte, ob man die Blätter besser Anfang oder Ende April pflückte und ob das Wasser zum Aufbrühen richtig kochen sollte, wie es dem Brauch der armseligen
gwailos
entsprach, oder nicht heißer als achtzig Grad Celsius sein sollte.
Schließlich machte Dr. X Richter Fang ein Kompliment bezüglich seines Hutes und besonders der Stickerei. Das bedeutete, daß er das Einhorn gesehen und die Botschaft verstanden hatte, daß nämlich Richter Fang seine zahlreichen Bestechungsversuche durchschaut hatte.
Wenig später kam Miss Pao nach unten und ließ den Richter zu ihrem Bedauern wissen, daß seine Anwesenheit dringend am Schauplatz eines Verbrechens in den Leasing-Parzellen erforderlich sei. Um Richter Fang die Peinlichkeit zu ersparen, das Gespräch von sich aus beenden zu müssen, näherte sich Dr. X wenige Sekunden später ein Mitglied seines Stabes und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Doktor entschuldigte
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