Diamond Age - Die Grenzwelt
zeigte sie seiner Frau, die überglücklich war. Eine Zeitlang lebten sie alle glücklich miteinander, und wann immer eines der Babys weinte, stand jemand von den Eltern auf und tröstete es. Aber eines Nachts kam der Vater nicht nach Hause, weil ein Sturm sein kleines rotes Fischerboot viel zu weit auf das Meer hinausgetrieben hatte. Eines der Babys fing an zu weinen, und die Mutter stand auf, um es zu trösten. Aber als auch das andere anfing zu weinen, konnte sie nichts tun, und so kam wenig später das Ungeheuer.
Als der Fischer am nächsten Tag nach Hause kam, fand er den Leichnam seiner Frau neben dem Kadaver des Ungeheuers, beide Babys jedoch unverletzt. Sein Kummer war groß, und er machte sich an die schwierige Aufgabe, beide Kinder allein großzuziehen.
Eines Tages klopfte eine Fremde an seine Tür. Sie sagte, sie sei von den grausamen Königen und Königinnen im Lande Jenseits vertrieben worden und brauchte einen Schlafplatz und würde jede Arbeit als Gegenleistung dafür annehmen. Zuerst schlief sie auf dem Fußboden und kochte und putzte den ganzen Tag für den Fischer, aber als Nell und Harv größer wurden, übertrug sie ihnen immer mehr Aufgaben, bis sie, als ihr Vater verschwand, vom Morgengrauen bis weit nach Einbruch der Nacht schufteten, während ihre Stiefmutter keinen Finger mehr rührte.«
»Warum lebten der Fischer und seine Babys nicht in dem Schloß, wo sie vor dem Ungeheuer sicher gewesen wären?«
»Das Schloß war ein finsterer und abweisender Ort auf einem Berggipfel. Der Fischer hatte von seinem Vater erzählt bekommen, daß es vor langer Zeit von Trollen erbaut worden war, die angeblich immer noch dort hausten. Und er hatte die zwölf Schlüssel nicht.«
»Hatte die böse Stiefmutter die zwölf Schlüssel?«
»Sie verwahrte sie an einem sicheren Ort, wenn der Fischer zugegen war, aber als er hinausfuhr und nicht mehr wiederkam, ließ sie Nell und Harv die Schlüssel wieder ausgraben, zusammen mit einer Menge Juwelen und Gold, die sie aus dem Lande Jenseits mitgebracht hatte. Sie schmückte sich mit dem Gold und den Juwelen, dann öffnete sie die Eisentür des Dunklen Schlosses und lockte Nell und Harv mit einer List hinein. Kaum waren sie drinnen, schlug sie die Tür hinter ihnen zu und sperrte alle zwölf Schlösser ab. ›Wenn die Sonne untergeht, werden euch die Trolle als Imbiß verspeisend frohlockte sie.«
»Was ist ein Troll?«
»Ein furchterregendes Ungeheuer, das in Löchern im Boden lebt und bei Dunkelheit herauskommt.«
Nell fing an zu weinen. Sie schlug das Buch zu, lief zu ihrem Bett, nahm ihre Stofftiere in die Arme, kaute auf ihrer Bettdecke und weinte eine ganze Weile, während sie über das Problem der Trolle nachdachte.
Das Buch gab ein Rascheln von sich. Nell sah aus dem Augenwinkel, wie es sich aufschlug und riskierte einen vorsichtigen Blick, weil sie Angst hatte, sie könnte das Bild eines Trolls sehen. Statt dessen sah sie zwei Bilder. Eines zeigte Prinzessin Nell, die mit vier Puppen in den Armen auf einer Wiese saß. Gegenüber befand sich ein Bild von Nell, die von vier Geschöpfen umringt wurde: einem großen Dinosaurier, einem Kaninchen, einer Ente und einer Frau mit purpurnem Haar und einem purpurnen Kleid.
Das Buch sagte: »Möchtest du gerne die Geschichte hören, wie Prinzessin Nell Freunde im Dunklen Schloß fand, wo sie es am wenigsten erwartet hätte, und wie sie die Trolle töteten und unbehelligt dort leben konnten?«
»Ja!« sagte Nell und rutschte schnell über den Boden, bis sie direkt über dem Buch saß.
Richter Fang stattet dem Himmlischen Königreich einen Besuch ab;
Tee wird in altehrwürdiger Umgebung serviert;
eine »zufällige« Begegnung mit Dr. X.
Richter Fang war nicht mit dem Unvermögen der Westler geschlagen, den Namen des als Dr. X bekannten Mannes auszusprechen, es sei denn, man hätte seinen Kantonesisch/New Yorker Akzent als sprachliche Unzulänglichkeit betrachtet. Bei Gesprächen mit seinen untergebenen Vertrauten hatte er es sich dennoch zur Angewohnheit gemacht, ihn Dr. X zu nennen.
Bis vor kurzem hatte er überhaupt nie einen Anlaß gehabt, den Namen auszusprechen. Richter Fangs Rang entsprach dem eines Bezirksrichters für die Leasing-Parzellen, die ihrerseits wiederum zur Chinesischen Küstenrepublik gehörten. Dr. X überschritt praktisch niemals die Grenzen von Alt-Shanghai, das einem anderen Bezirk angehörte; um genauer zu sein, er hielt sich stets innerhalb einer kleinen, aber in sich
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