Diaspora
aber sie streckten mehrere stielartige Organe aus – bis zu zwölf Hyperzylinder –, die sie bewegten, während sie sich aneinander vorbeibewegten.
Die Theorie lautete, daß es sich um Kommunikationsakte handelte, doch aufgrund der wenigen beobachteten Begegnungen war es unmöglich, irgendwelche Rückschlüsse über die hypothetische Sprache der Eremiten zu ziehen. In ihrer Verzweiflung hatten die Xenologen tausend Eremiten-Roboter konstruiert und sie programmiert, sich einzugraben und Höhlen zu schaffen, in unnatürlicher Nähe zu ihren realen Vorbildern, in der Hoffnung, damit irgendeine Reaktion zu provozieren. Das war nicht geschehen, obwohl immer noch die Möglichkeit einer Begegnung zwischen Roboter und Eremiten bestand, falls einer der Nachbarn sich entschließen sollte, hervorzukommen und sich eine neue Höhle zu bauen.
Normalerweise wurden die Roboter durch nichtbewußte Software kontrolliert, doch einige Bürger hatten die Gelegenheit genutzt, sie als Marionetten zu betreiben, und Orlando hatte es ihnen pflichtbewußt nachgetan. Er entwickelte allmählich den Verdacht, daß die Eremiten genauso dumm waren, wie sie zu sein schienen, was eher eine Erleichterung als eine Enttäuschung darstellte. Soviel Zeit mit ihnen verschwendet zu haben erschien nur halb so schlimm, als die Tatsache akzeptieren zu müssen, daß sich eine intelligente Spezies freiwillig in diese Sackgasse manövriert hatte.
Orlando wollte zum Himmel aufblicken, doch sein Körper war nicht in der Lage, diesen Befehl auszuführen. Die infrarotempfindliche Hyperfläche seines Gesichts ließ sich nicht weit genug zurückbiegen. Die Eremiten – und viele andere Poincaréaner – nahmen ihre Umgebung durch eine Art Interferometrie wahr. Statt mit Linsen ein Bild zu erzeugen, benutzten sie Anordnungen von Photorezeptoren und analysierten die Phasendifferenzen der Strahlung, die von unterschiedlichen Rezeptoren registriert wurden. Da man sich auf nicht-invasive Beobachtungen lebender Eremiten und Mikrosonden-Autopsien von toten Individuen anderer Spezies beschränkte, wußte niemand genau, wie die Eremiten ihre Welt sahen, doch die Farbe und die Anordnung der Rezeptoren legten die offensichtliche Schlußfolgerung nahe, daß sie die Wärmestrahlung der Umgebung zum Sehen benutzten. Da ihre Höhlen durch die eigene Körperwärme aufgeheizt wurden, verbrachten sie ihr gesamtes Leben in einem Kokon aus Licht. Orlando hatte die von ihm wahrgenommene Helligkeit in seiner Höhle reguliert, bis die Umgebung einigermaßen angenehm für ihn war, doch weiter wollte er in der Nachahmung des Eremitenlebens nicht gehen. Wenn kleine stachelbewehrte Oktopoden in seinen Mund rutschten, drehte er sich um und spuckte sie durch den zweiten Tunnel der Höhle wieder aus. Ganz gleich, wie unintelligent diese Geschöpfe sein mochten, er war jedenfalls nicht bereit, sie nur aus Sympathie zu den Eremiten zu töten oder einer Simulation, die vermutlich ohnehin nur unvollkommen war, übermäßige Authentizität zu verleihen.
Sein Exo-Ich setzte ein Textfenster in die Landschaft, was einen unheimlichen und desorientierenden Effekt hatte. Das zweidimensionale Objekt beanspruchte nur einen vernachlässigbar geringen Ausschnitt seines Sichtfelds – in beiden hyperalen Richtungen war es dünn wie eine Spinnwebe –, doch die Worte erregten trotzdem seine Aufmerksamkeit, als wären sie ihm in einer 3-Landschaft ins Gesicht geschleudert worden, um alles andere zu überlagern. Als er das Fenster bewußt wahrnahm, um die Ankündigung zu lesen, hatte er ein starkes Déjà-vu-Erlebnis, als hätte er die Bedeutung der Seite mit einem Blick erfaßt.
Der Kontakt zu C-Z Swift war für fast dreihundert Jahre abgebrochen. Auf der Makrosphären-Seite dagegen war die Verbindung nie verstummt, denn der Photonenstrom, der durch die Singularität erzeugt wurde, war direkt von einem Datenpaket mit der Zeitmarkierung 4955 WZ zu 5242 WZ gesprungen. Die Bürger von C-Z Swift waren jedoch erst jetzt aus einem langen Alptraum erwacht, nachdem sie sich Jahr für Jahr gefragt hatten, ob der beiderseitige Beta-Zerfall jemals wieder einsetzen würde.
Orlando sprang zurück zur Schwebenden Insel, zu seiner Schlafkabine, in seinen 3-Körper. Er saß zitternd auf dem Bett. Sie waren nicht gestrandet. Noch nicht. Das Zimmer war vertraut, gemütlich und plausibel – aber letztlich war alles eine Lüge. Nichts davon konnte außerhalb der Polis existieren: Der Holzfußboden, die Matratze, sein Körper,
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