Dich schlafen sehen
zu fahren, und Sarah träumte davon. Seitdem war ihr die Karte nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Ihre Mutter hatte das Versprechen nie eingelöst. Und jetzt tat ich es an ihrer Stelle. Ich schenkte Sarah den unerfüllten Traum ihrer Kindheit.
Die Feriensiedlung lag ein paar Kilometer von den ersten Camargue-Sümpfen entfernt. Sie war groß und umfasste mehrere Hektar. Dutzende von kleinen Bungalows mit pastellfarbenen Mauern und roten Ziegeldächern standen dicht an dicht um angelegte Gärten. Am Horizont war das satte gleichmäßige Grün der ersten verwilderten Reisfelder zu erkennen. Sarah und ich wohnten in einem winzigen stickigen Zimmer, das nur mit einem Etagenbett ausgestattet war. Von diesem Zimmer aus konnten wir die weiten Flächen erahnen, über die der Wind strich. Häufig lagen wir nebeneinander auf dem oberen Bett und bewunderten durch das kleine Fenster die Abenddämmerung, die über dieser verschwimmenden Linie loderte.
Der Himmel in der Camargue hat eine Farbe, die einmalig ist auf der Welt. Ein mattes, metallisches Weiß, an manchen Stellen grell oder bräunlich, grau-blau wie Stahl. Manchmal fühlt man sich an zwei endlos übereinander gefaltete Schleier erinnert, und hinter diesem Stoff, der so dicht wie ein Moskitonetz ist, steht je nach Tageszeit eine weiße oder rötliche Sonne. Oft beobachtete ich, wie Sarahs Blick sich in diesem Himmel verlor. Beide hatten dieselben Feuerfarben. In solchen Augenblicken hätte man meinen können, dass sie wie zwei Spiegel ineinander übergingen. Und dass alle beide in sich dasselbe Schweigen bargen, dieselbe nicht greifbare Leere.
Mit jedem Tag wurde die Hitze drückender. Die Stechmücken plagten uns ohne Unterlass. Die Sonne verbrannte die Haut. Jeder Tag war zum Ersticken. Dann zog die Nacht herauf, mild und schwarz, und es wurde seltsam still. Von unserer Terrasse aus hörten wir, wie das letzte Zirpen der Grillen verstummte, dann ertönte das kurze und laute Quaken der ersten Frösche. Die Tage schleppten sich dahin.
In den Stunden, in denen wir, um der Hitze zu entfliehen, auf unseren Betten lagen und vor dem Ventilator Abkühlung suchten, erzählte Sarah. Mit fester Stimme sprach sie von ihrem Kummer, ihren Hoffnungen, ihren Zukunftsplänen. Und ich lauschte ihr gebannt. Ihre Entschlossenheit faszinierte mich. So sehr, dass ich nicht wusste, was ich ihr erwidern sollte. Ich hätte gerne etwas gesagt, hätte mir gewünscht, dass sie mir ihrerseits zuhörte, dass wieder ein Gespräch in Gang kam. Doch ich konnte nicht.
Nur manchmal erzählte ich ihr von mir. Aber ich hatte nicht viel zu sagen. Sarah wusste bereits alles über mich, über meine Familie, die sie mochte, über meine wenigen »Freunde«, die natürlich auch die ihren waren, über meine Geheimnisse, meine gelegentlichen Träume. Ich tat nichts, worüber sie nicht schon im Bilde war. Längst hatte ich es aufgegeben, mit ihr über meine spärlichen gesellschaftlichen Anschauungen zu sprechen, aus Furcht, sie könnte sie ablehnen und dieses oder jenes daran auszusetzen haben. Ich kam mir unnütz vor, langweilig. Wenn Sarah mir zwei Jahre zuvor eine Identität gegeben hatte, so hatte sie mich dafür meiner Persönlichkeit beraubt. Manchmal schoss mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf, den ich nicht zulassen konnte. Der Gedanke, dass sie meine Freundin war, ich aber nicht ihre.
Ich sah, wie sie meine Eltern, dann meinen Bruder einwickelte. Selbst meine Mutter schloss Sarah, die ja so viel für mich getan hatte, allmählich ins Herz. Mein Vater war fasziniert von ihrer Reife, die er bei seiner eigenen Tochter noch nie festgestellt hatte. Bastien fand sie reizend. Bei den Mahlzeiten, die wir gemeinsam auf der Terrasse im Schatten des riesigen Sonnenschirms einnahmen, beherrschte ihre Stimme die Unterhaltung. Sie sprach im Tonfall und mit der Selbstsicherheit einer Erwachsenen. Manchmal war sie in einer politischen oder moralischen Frage anderer Meinung als meine Eltern und bot ihnen die Stirn, bis sie klein beigaben. Und sie gaben immer klein bei. Für ein vierzehnjähriges Mädchen war sie unglaublich schlagfertig. Meine Eltern hingen förmlich an ihren Lippen, zunächst erstaunt, dann bewundernd. Sie waren begeistert von ihr und behandelten sie fast wie ein Mitglied der Familie. Und ich, ich liebte Sarah mehr als mich selbst.
Abends redeten wir wieder. Das heißt,
sie
redete. Sie erlaubte sich sogar, die Art, wie meine Eltern mich erzogen hatten, zu kritisieren.
Soll ich offen zu
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