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Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
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Selbstvertrauen gegeben hatten. Die Behandlung war streng, aber alles in allem war sie nur die verdiente Strafe. Und sie abzulehnen, war undenkbar: Hatte ich nicht die Chance, als ihre beste Freundin angesehen zu werden? Ich musste es bleiben, weil es für mich keine andere Möglichkeit gab, und deshalb musste ich alles hinnehmen.
    Von unserer Freundschaft blieb nichts, weder die flüchtigen Glücksmomente noch das ausgelassene Lachen, noch die verbotenen Spiele vom vergangenen Jahr. Sarah wurde erwachsen, und viel schneller als ich. Ich war nur ein Kind, eine Gefangene meiner Träume, meines verbotenen Aufbegehrens. Mir war, als hätte mein Leben gerade erst begonnen, und schon verlangte Sarah von mir, erwachsen zu werden. Haltlos, verloren, unfähig, mich mit ihr auf eine Stufe zu stellen, betrachtete ich mich und fand mich jämmerlich neben ihr.
    Natürlich wurde ich von ihren neuen Freunden nie richtig akzeptiert, und sie selbst trug ihren Teil dazu bei. Ich folgte ihr überallhin, aber es war vergebliche Mühe, denn sie machte sich einen Spaß daraus, mich zu ignorieren. Sie genoss das Leben in vollen Zügen, vergnügte sich mit den Spielen der Erwachsenen, posierte in den Armen von Jungen, die älter waren als sie, vertraute sich jedem x-Beliebigen an. Bald hatte ich nicht mehr die Kraft, ihr zu folgen, geschweige denn, mit ihr mitzuhalten. Gefesselt in der Vergangenheit, träumte ich davon, wieder mit ihr zusammenzukommen, ja ich redete mir sogar ein, dass sich nichts verändert hatte. Ich war blind und vernagelt.
    Ich wartete und hoffte wie eine Idiotin. Sie terrorisierte mich. Ihr Gesicht war stolz und verächtlich geworden. Sie rauchte Zigaretten, und ich folgte ihrem Beispiel, um erwachsen zu wirken. Sie flirtete mit den Jungs: Ich tat so, als interessierten sie mich, doch wenn ich Sarah in ihren Armen sah, beschäftigte mich das mehr als meine eigenen Eroberungen. Ich lebte wie aus zweiter Hand. Nichts konnte mich zur Vernunft bringen.
    Meine Besessenheit wurde von Tag zu Tag schlimmer. Sie war wie eine Infektion, ein Krebsgeschwür: Dass wir sie in uns haben, merken wir erst, wenn es wehtut. Und doch ist sie da, nistete sich irgendwo ein, auch wenn wir keinen Schmerz spüren.
    Ich hörte diese innere Stimme, eine kreischende Stimme, die mir keine Ruhe ließ. Ständig mischte sie sich ein, erinnerte mich an Sarah. Bald war ich nicht mehr in der Lage, mich ihr zu entziehen.
    »Sieh sie dir an, Charlène. Sieh doch, wie sie dich ignoriert. Sie macht es ganz raffiniert. Sie macht dich unsichtbar, und gleichzeitig quält sie dich, sie frisst dich auf, sie tötet dich. Sie tut so, als ob sie dich nicht sieht, aber sie hat alles geplant, sich alles im Voraus überlegt: Sie weiß, dass du sie ansiehst, sie weiß es genauso wie du. Sie wartet, bis ihr allein seid, dann macht sie dir Hoffnungen. Und sobald ihr unter Leuten seid, macht sie dir Vorhaltungen. Vor allem aber mach dir klar, dass sie ohne die anderen nichts mehr ist. Dass sie ohne
dich
nichts mehr ist.«
    »Was redest du da? Ich erwarte überhaupt nichts von Sarah, sie ist meine beste Freundin. Ich kann ihr keine Vorwürfe machen. Du hast Unrecht, ich weiß ganz genau, dass ich ihr etwas bedeute.«
    »Du täuschst dich. Im Übrigen brauchst du sie nur zu beobachten, um ihr Spielchen zu durchschauen. Ich bin sicher, dass sie dir eine Menge verheimlicht. Beweise mir, dass meine Sorge unbegründet ist. Sag mir die Wahrheit. Geh ihr nach, beobachte sie, lass sie nicht aus den Augen. Ich möchte, dass dir nichts entgeht, was sie tut. Ich bitte dich darum.«
    »Hör auf, sei still. Du bist ja verrückt, sei still, lass mich in Ruhe!«
    In diesem Sommer lag ich meinen Eltern wochenlang in den Ohren, bis sie schließlich einwilligten, ihren nächsten Urlaub in der Camargue zu verbringen. Aufgeregt rief ich Sarah eines Abends an und teilte ihr mit, dass sie sich uns anschließen könne. Ich wusste, dass ihr die Idee gefallen würde. Ich weiß noch, wie sie eines Tages, in der vergessenen Zeit am Beginn unserer Freundschaft, als wir uns in ihrem Wohnzimmer unterhielten, eine alte abgegriffene Postkarte aus einer Schublade der Kommode zog. Das Foto zeigte eine einfache Landschaft, Reisfelder in der Abenddämmerung. Sarah hatte mir erzählt, dass sie die Karte von ihrer Mutter bekommen hatte, als sie fünf Jahre alt war und bei ihren Großeltern lebte. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter etwas von sich hören ließ. Sie versprach ihr, eines Tages mit ihr dorthin

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