Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dich schlafen sehen

Dich schlafen sehen

Titel: Dich schlafen sehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Brasme
Vom Netzwerk:
sicher.
    Ich kramte alles hervor: Fotos, Alben, Tagebücher, Briefe, Schreibhefte, Andenken. An einem einzigen Nachmittag sah ich mein ganzes Leben vor meinen Augen vorüberziehen, eine Vergangenheit, vor der ich hartnäckig geflohen war, die ich unbedingt hatte vergessen wollen.
    Und nichts hatte bisher so wehgetan.
    Ich begriff, dass ich vor Sarah ein Leben gehabt hatte, eine glückliche Kindheit, eine eigene Existenz, die mir allein gehört hatte. Ich war zwar nichts Besonderes, aber ich war zumindest jemand. Ich war glücklich gewesen. Ich war frei gewesen.
    Fotos von mir. Mit zwölf: ich mit meinen Urlaubsbekanntschaften bei Sonnenuntergang vor dem Swimmingpool, Vaucluse, Sommer '96. Mit zehn: zwischen meinem Vater und meiner Mutter, Bastien hockt vor uns, im Hintergrund die Gäste rings um den Tisch, Weihnachten '94. Mit acht: im Pyjama, in die Bettdecke gekuschelt, auf der anderen Bettseite liegt Vanessa, ohne Datum. Mit fünf: ein Mädchen, an dem ein Junge verloren gegangen ist, mit wildem Blick, auf den Knien meines Großvaters, Herbst '89. Mit zwei: ein schöner Sommertag, ein Strohhut und ein gestreiftes Kleidchen, bei den ersten Gehversuchen an der Hand meiner Mutter. Zwei Tage nach meiner Geburt: im Entbindungsheim, meine Mutter hält mich im Arm, neben uns mein Vater. Sie lächelten, sie sehen gerührt aus. Beim Anblick dieses Fotos weinte ich.
    Ich erkannte, dass mein Leben nicht immer so armselig gewesen war. Ich war geliebt worden, und vielleicht wurde ich noch immer geliebt. Für meine Eltern, meinen Bruder, Vanessa und einige andere war ich ein vollwertiger Mensch, ich war ein Teil ihres und sie ein Teil meines Lebens. Ein heftiger Schwindel befiel mich. Die Wahrheit verursachte mir Übelkeit.
    Wie hatte ich nur so blind sein können? Ich hatte Liebe gesucht, Freundschaft und anderes mehr. Ich glaubte, bei Sarah alles gefunden zu haben. Beinahe zwei Jahre lang hatte ich mich bemüht, diese Beziehung wieder zu beleben. Sarah hatte alles zerstört, hatte mich meiner selbst entfremdet.
    Und die ganze Zeit über hatten Menschen mich geliebt. Und in meiner Verblendung hatte ich sogar diese Liebe aus den Augen verloren.
    Ihr Auftauchen hatte alles zerstört. Mein Leben war ruiniert. Ich war ein schwacher Mensch: gequält, verängstigt, verschlossen. Unterwürfig. Ein gedemütigter Mensch ohne Identität.
    Diese Fotos, die verstreut auf dem Fußboden lagen, führten mir meine Vergangenheit vor Augen. Alles war sonnenklar. Es war kein Zufall, dass Sarah mich benutzt hatte. Sie wusste von Anfang an, wie schwach und leicht zu beeinflussen ich war. Und sie brauchte mich ebenso wie ich sie. Vielleicht hatte sie sogar schon in den ersten Wochen gemerkt, dass ich verrückt war oder dazu neigte, es zu werden. Wie auch immer, ich hatte alles geschehen lassen, ich hatte ihre Spielregeln akzeptiert, ich war ihr gegenüber eine Verpflichtung eingegangen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens hatte sie es verstanden, mir wieder Selbstvertrauen zu geben, und sie war meine einzige Vertraute geworden. Was danach kam, war unausweichlich. Also sagte ich mir, dass ich für diese ganze Geschichte möglicherweise nicht allein verantwortlich war. Vielleicht war Sarah genauso verrückt wie ich, nur hatte das Schicksal gewollt, dass unsere Wege sich kreuzten und ich unterlag. Zum ersten Mal seit Jahren der Verblendung wurde mir bewusst, wie sehr ich sie verachten konnte. Lange Zeit hatte ich dieses Gefühl für Faszination gehalten. Aber vielleicht ist es nur ein kleiner Schritt von Liebe zu Hass.
    Ich sah in den Spiegel in meinem Zimmer, jenen Spiegel, der mir als Kind solche Angst eingejagt hatte, und ich erblickte eine Fremde. Hinter dem Glas kauerte ein nacktes Mädchen, gezeichnet von den Tränen, die ihr über die Wangen liefen, und betrachtete mich mit leerem Blick. Um sie nicht länger sehen zu müssen, griff ich nach dem nächstbesten Gegenstand, meiner Nachttischlampe. Ich warf sie auf den Boden und beruhigte mich erst, als das ganze Glas zerbrochen unter meinen Füßen lag. Von den letzten Scherben bluteten mir die Hände.

Lieben und geliebt werden
    Das Chopin nach der neunten Klasse zu verlassen war der letzte Ausweg, der mir noch blieb. Ich war bereit, dem Leben, das Sarah mir zur Hölle gemacht hatte, für immer zu entfliehen. Überzeugt, dass unsere Wege sich endgültig trennen würden, wenn ich das Collège verließ, sah ich dem Sommer mit unendlicher Erleichterung entgegen.
    Ich wollte diese vier

Weitere Kostenlose Bücher