Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
Vom Netzwerk:
geschimpft und gekuscht. In meinem Betrieb hörte ich von morgens bis abends Beschwerden. Ich sagte: Recht habt ihr, also wißt ihr was? Am Sonntag gehen wir nicht zur Wahl! Ein Teil von ihnen wurde sofort still, einzelne aber riefen: Genau! Wir verpassen denen einen Denkzettel! Am Montag legte ich meine Wahlbenachrichtigung auf den Tisch und fragte: Na, wo sind eure? Sie wanden sich. Sie hatten alle gewählt. Alle, außer mir. So kam man auf die 99 Prozent.«
    » Ich habe auch nicht gewählt«, werfe ich ein.
    » Dann gehören wir also zum selben Prozent«, bemerkt er gönnerhaft.
    » Tja, und alle 99 Prozent haben die Wende besser überstanden als wir. Ich bin 1989 als einer der ersten aus Partei und Schriftstellerverband ausgetreten. Der Staat hat es nicht mal gemerkt, doch mir hat’s geschadet, und schadet bis heute. Ein SV -Funktionär hat mir neulich nach einer Lesung den Arm um die Schulter gelegt und gesagt, er werde mir jederzeit den Weg nach Halle offenhalten. Aber dann müsse ich auch wieder Mitglied werden, denn von den Mitgliederverbänden werde das alles bezahlt, oder so ähnlich. Ausgerechnet diese Typen, mit denen ich nie wieder zu tun haben wollte! Alle wieder obenauf. Bitter ist das! Mit sechzig Jahren müßte man es eigentlich geschafft haben, statt dessen bin ich so tief unten, wie ich niemals war – allein, ausgebrannt, ohne Heimat …«
    » Ein Erzgebirgler ist niemals ohne Heimat, solange er Gabriel Herzgeber kennt«, ruft Gabriel und beginnt zu singen:
    » O Arzgebirg, wie bist du schie ,
    mit deine Wälder, ihr Wiesen, Barg on Tol,
    in Winter weiß, in Sommer grü,
    O Arzgebirg, wie bist du schie!«
    So wehmütig kann dieser Baßbrummer modulieren, so zart in die Kopfstimme gehen, daß ich mitsingen muß, die Schnulze macht auch auf dieses Publikum Eindruck, weshalb alle lauschen, und was noch schlimmer ist: Sie macht auf mich selbst Eindruck, dabei verkörpert sie alles, wovor ich geflohen bin.
    Irene und Sidonie wollen wissen, was » Arz« heißt, ahnungslose Mädchen, sie waren schon in Argentinien und Indonesien, aber vom Erzgebirge haben sie nie gehört. » Und was heißt schie ?«
    » Schön, Teuerste, es heißt schön !« amüsiert sich Gabriel. » Sidonie, wie bist du schie«, ich sehe den Ausdruck des Unbehagens in Sidonies Gesicht und unterbreche Gabriel, um von unserem Erzgebirgsdichter Anton Günther zu erzählen, der aus Armut nach Prag auswandern mußte und sich in der Goldenen Stadt so herzzerreißend nach seinem zugigen Kaff am Gebirgskamm sehnte, daß er Kitschlieder schrieb. » Die Worte sind nicht der Rede wert«, sage ich. » Jedes Gebirge hat Berge und Täler und ist im Winter weiß, im Sommer grü. Aber die Musik …« Ich spüre, daß mein Publikum ungeduldig wird. » Na, er war ein Kauz. Er kehrte mit dreißig in die Heimat zurück, blieb aber arm. Er zog mit der Klampfe durch die Dörfer, wurde schwermütig und brachte sich um. 1937, mit einundsechzig Jahren«, erwähne ich. Einundsechzig werde ich selbst bald sein, kein Wunder, daß meine Stimme zittert.
    » Es waren harte Zeiten«, lallt Gabriel. » Aber darüber sollten wir nicht vergessen, daß ein lebender Erzgebirgsklassiker unter uns sitzt. Kennt ihr zum Beispiel das berühmte Gedicht: Der Tiefe Blühend Glücksstollen im Hinteren Grund?« Und zitiert bereits: » Unruhe / Traum Sucht Berggeschrei / Im Tal der Schwarzen Pockau …« Er trägt gut vor, sie lachen, aber warum lachen sie? Warum lacht man im Westen über die Sachsen? Warum über Dichter? Wieder kippt meine Stimmung. Aus Trotz beginne ich die Ostdichter aufzuzählen, die sich umgebracht haben: Inge Müller und Theo Harych noch in der DDR . Eckhard Ulrich und Manfred Streubel nach der Wende. Bräunig und Djacenko haben sich zu Tode gesoffen, Hilbig und Leising sind dabei, es zu tun …
    » Ulrich war bei der Stasi!«
    » Nur für zwei Jahre in den Siebzigern, man hatte ihn erpreßt. Da er als Quelle nicht ergiebig war, haben sie das Verhältnis aufgelöst.«
    Ja, Ulrich tut uns leid. Bei Streubel sind wir uneinig. Streubel war Hausdichter von Bummi, Atze, Frösi, in Erwachsenenzeitschriften wurde er kaum mehr gedruckt, angeblich veraltet, weil er immer reimte. Doch auch nach der Wende fand er keinen Verleger, weder in West noch Ost. Hat nun die Wende ihn umgebracht, oder wäre ihm sowieso nicht zu helfen gewesen? Hier ist mein Auge: Glut aus großer Schwärze. / Genug gesehn in Frost und Freudenhaus! / Bevor es blakt wie eine Kirchenkerze – / Ich

Weitere Kostenlose Bücher