Dichterliebe: Roman (German Edition)
hatte Lessing geschrieben. Wir spotteten über ihn.
Zisler bewegte sich nicht flüssig. Inzwischen sah er die Fehler der Mächtigen nicht mehr als Panne, sondern als immanente Unart der Macht und begann gegen sie zu wirken an der Grenze dessen, was erlaubt war. » Einer muß es tun«, sagte er. Er zitierte Brecht: Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen. Wir registrierten nur gnadenlos, daß Zisler in diesen Mühen sich selber auffraß, während Brecht auf jeder Ebene elegant geblieben war. Wir schätzten unseren Mentor weiterhin, doch auf zunehmend gönnerhafte Weise.
Viele Jahre später an einem Novemberabend besuchte ich Lutz Brick, einen von Zislers Lieblingsschülern, da klingelte das Telefon. Lutz’ Frau begrüßte am Apparat laut Zisler, worauf Lutz ihr hektische Zeichen machte, er sei nicht da. Lutz’ Frau war eine schlechte Lügnerin, das schien auch Zisler zu merken, denn er fragte immer wieder, und sie mußte immer weiter lügen, bekam rote Streifen im Gesicht und stotterte. In diesen Tagen war Biermann ausgebürgert worden, alle Kollegen sprachen über die Protestpetition, und Lutz fürchtete, Zisler wolle ihn als Mitunterzeichner gewinnen. » Du hast gut reden«, sagte er zu mir, » Eure Gedichte gehen notfalls von Hand zu Hand, ich als Dramatiker aber brauche eine Bühne«, und: » Warum soll ich was für Biermann tun? Was tut Biermann für mich?«, kurzum: der Jammer der Abhängigen; ich kannte ihn selbst und hatte oft genug versagt, auch wenn ich in jenen Tagen stark war.
Am nächsten Morgen erwachte ich gegen sechs, den resignierten Blick Zislers vor Augen. Ich packte meine Tasche, ohne das Erwachen der Gastgeber abzuwarten, und fuhr direkt nach Stötteritz. Bei meiner Ankunft war’s noch dunkel, aber hinter Zislers Fenster brannte Licht. Ich klingelte und sagte, ich hätte die Petition unterschrieben. Zisler war, muß ich sagen, noch überraschter als ich: Sein Anruf hatte einer anderen Sache gegolten. Aber als er Tage später im Neuen Deutschland Bricks Unterschrift unter der Überwältigenden Zustimmung der Kulturschaffenden der DDR zur Politik von Partei und Regierung sah, brach er den Kontakt zu Lutz ab.
Er verbitterte zusehends und ließ auf seinen Briefkopf, um die Funktionäre zu reizen, Wilhelm Raabes Worte drucken: Dass die Kanaille Herr ist und bleibt! Es ist nicht anzunehmen, daß jemals ein Funktionär diese Bemerkung verstanden, geschweige denn auf sich bezogen hätte, doch Zisler beschrieb glaubhaft, welche Genugtuung es ihm jedes Mal bereite, einen Schriftsatz mit diesem Briefkopf im Kasten zu versenken. Er starb mit Sechzig an einem Infarkt bei einem Spaziergang durch die Elsterauen. Augenzeugen schilderten, wie er jäh sich ins Kreuz warf und zusammenbrach, als sei er implodiert.
Trotz seines Pessimismus förderte er bis zuletzt die schreibende Jugend. Ich unterstellte ihm, er suche hektisch und unkritisch Neue, weil die Älteren, darunter auch ich, ihn enttäuscht hatten. Dennoch beeindruckte mich diese Konsequenz eines Menschen, der ständig Metamorphosen durchlief.
Zisler war als Jugendlicher Nazi gewesen, und zwar nicht irgendeiner, sondern besonders schneidig, ein Reiter-Nazi mit Tätowierung und Lederstiefeln. Im russischen Antifa-Lager aufgeklärt, schämte er sich und wurde Kommunist. Nach der Heimkehr war er zunächst staatsfroher Dichter, dann DDR -Kritiker, Unterzeichner der Biermann-Petition, Buddhist, katholisch; zwischendurch jeweils Alkoholiker. Danach ein fanatischer Vegetarier, der nur Äpfel aß: » Wissen Sie, was Hunger ist?« Plötzlich wurde er fett wie ein Delphin und fragte die Dichterin Broda, eine Blutwurststulle im Mund: » Was halten Sie von der Gnade?«
*
Sidonie lacht beim Lesen. » Gnade … Blutwurststulle … lustig!« Sie strahlt mich an.
» Nicht eher traurig?«
» Doch«, nickt sie nach einiger Überlegung, » auch.«
Was fange ich mit dieser Frau an? Sidonie, Zufallsgefährtin meiner Einsamkeit: immer für mich da, neugierig, anspruchslos. Ohne Pose, das ist nett, aber auch ohne Stil: läuft rum, als wisse sie nicht, daß Männer auf sie schauen. Braucht sie keinen? Macht ihr nichts aus, daß schon lange keiner mehr sie gebraucht hat? Auf einmal kommt mir diese Unbedenklichkeit wie Stärke vor. Ich spüre einen Hauch von Gefahr.
Sie gibt mir die Blätter zurück. » Schreibst du eine Autobiographie?«
» Nein. Ein Auftrag des WDR , Titel: Metamorphosen .«
» Schön!«
» Keineswegs. Eine
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