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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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haben muß. Aus der Bibliothek holte ich Gedichtbände und las in jeder freien Stunde, schrieb ab, deklamierte:
    Reich mir die Hand , wir müssen
    tastend gehen. Doch diese Finsternis
    das ist die Nacht nicht mehr.
    oder – zu meinen ersten Favoriten gehörte neben Kuba auch Franz Fühmann –
    So sei verflucht , du Zeit der Totentänze!
    Um die versengten Mauern streicht der Wind.
    Den Toten dauern nicht mehr Grab und Kränze –
    sorgt, daß der Tag der Lebenden beginnt!
    Sie kannten mich. Sie reichten mir die Hand. Nach Wochen unersättlichen Lesens begann ich selbst zu dichten, buchstäblich mit zitternder Hand. Eine gelähmte Sprache springt nicht auf und bricht Rekorde, sie wächst langsam, wie Muskulatur, durch Übung und Stimulation. Jede neue Bewegung, jeder Schritt erfüllte mich mit Glück. Ich prüfte und änderte, lauschte dem Klang, spürte die Spannung, die Funken, längst führte ich ein zweites leuchtendes, verheißungsvolles Leben neben dem grauen, zähen ersten. Gelegentlich glückte nun auch mir eine aufgeladene Periode. Ich bekam Herzklopfen, meine Sohlen prickelten, als liefe ich über eine andere Erde.
    Was aber, wenn alles nur Einbildung war? Nach einigen Monaten demütiger und frohlockender Exaltation schickte ich Frank Zisler einen Brief. Ich erklärte ihm alles, legte meine Mitschrift seiner Gedichte bei und bat ihn höflichst um Begutachtung folgender Gedichte aus meiner Feder. Zu seiner Entlastung legte ich eine frankierte Postkarte mit zwei Antworten zum Ankreuzen bei: erstens Taugt nichts und zweitens Weitermachen. Ich erwog, mich im Falle von Antwort eins umzubringen. Dann wäre meine Qual beendet, dachte ich plötzlich mit einer gewissen Erleichterung. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und ging betäubt und feierlich wie ein Verurteilter umher. Nach einigen Tagen fiel mir ein, daß ich möglicherweise überhaupt keine Antwort bekommen würde. Vielleicht hatte ich nicht ausreichend frankiert? Oder gar nicht? Oder hatte vergessen, die Gedichte in den Umschlag zu stecken? Entsetzt durchwühlte ich meine Schreibtischschublade. Nein, alles war abgeschickt. Er hielt meine Sendung für keiner Antwort wert.
    Ich lief direkt zur Saale, um mich hineinzustürzen. Es war natürlich Winter. Graubraun wälzte sich der eisige Strom zu meinen Füßen. Das Wasser würde meinen Leib nicht aufnehmen, sondern zerschlagen. Ich dachte: Graubraun wälzt sich der eisige Strom / Zu meinen Füßen / Er wird meinen trauernden Leib – Der Anfang eines Gedichts. Ich ging nach Hause, um es aufzuschreiben. Im Postkasten lag die Antwort von Zisler.
    So einfach, lieber Herr Steiger, liegen die Dinge nicht. Vielleicht kommen Sie einmal vorbei, damit wir reden können? Das Fabelwesen lebte! Es antwortete, mir!, und es hatte eine irdische Adresse, nicht mal allzuweit entfernt: in Leipzig-Stötteritz.
    Zisler war vierschrötig, hatte ein rundes Gesicht mit gewölbter Stirn und roch nach Tabak. Er war, wie seine Poesie, nicht attraktiv durch Anmut, sondern durch Ernst. Mit seinen blaßblauen, grüngesprenkelten Augen sah er mich an und gab mir Würde. Er erbat weitere Arbeitsproben und empfahl mich ans Johannes R. Becher-Institut. Ich wurde aufgenommen. Ich sang: … Aber die Erde ? / Ist es nicht sie, wo die Vögel rufen? Ich liebte alle Dichter, auch Louis Fürnberg.
    Mehrere meiner Kommilitonen waren ebenfalls von Zisler entdeckt worden, und er förderte uns jahrelang. Natürlich wurden wir hochmütig. Schon nach wenigen Monaten spotteten wir über seine mühselig kreisende Gedankenlyrik und parodierten sie mit derselben Überheblichkeit, mit der wir den Namensgeber unseres Instituts Johannes Erbrecher nannten. Ich übte Formen, Bilder, Stimmungen, und daß Zisler meinem ersten Gedichtband Erfindung des Frühlings Gedankenlosigkeit bescheinigte, kratzte mich keine Sekunde, da das Buch im Neuen Deutschland gelobt wurde und umgehend einen Preis bekam. Plötzlich saß ich in der Rakete und hatte meinen Mentor in Auflage und Reputation hinter mir gelassen.
    Warum sollte ich Zislers Gewissensqualen teilen? Diese Alten hatten ja unsere Welt vorbereitet und waren verantwortlich, wir badeten sie nur aus. Wir wehrten uns mit Übermut und Ironie – was uns eben zu Gebote stand. Die alte Welt freute sich über unsere Unbefangenheit und den frischen Ton, als wäre er ihr Werk. Als wir uns der Fesseln bewußt wurden, hatten wir längst gelernt, uns flüssig in ihnen zu bewegen. Es sind nicht alle frei , die ihrer Ketten spotten,

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