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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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ein bißchen, um Krzykowskis Notlage auszunutzen, die Folge ist dichter Faxverkehr.
    Der Weg zur Faxbox verbindet mich mit der Welt.
    Fast jedes Mal treffe ich irgendwo auf Leopold und Sidonie. Sie hocken zusammen auf der Bank vor dem Haupthaus oder in der Bibliothek über Texte gebeugt, oder sie stehen in der Musikbox am Klavier, er klimpert Phrasen, sie sucht Wörter, die zum Klangwert passen. Die Melodien sind hübsch ohne Entwicklung, Sidonies Text angemessen. Das Bild der beiden so anmutig wie kindlich, sogar ein bißchen feierlich: Ich spüre ihre Dankbarkeit, unter so guten Bedingungen etwas schaffen zu dürfen. Ich sehe ihre Empörung voraus, wenn sie erkennen, daß sie vergeblich geschaffen haben. Sie werden nicht einsehen, daß ihr Werk überflüssig war, sondern die Ungerechtigkeit der Welt beklagen. Doch noch ist es nicht soweit. Ich beneide sie. Gerade haben sie eine tolle Idee, springen in die Luft und umarmen einander. Es sieht harmlos aus. Es muß harmlos sein, sonst hätte Leopold nicht so herzlich zu mir gesagt: Sidonie schwärmt von Ihnen. Hat sie das wirklich getan? Hat sie es gemeint? Süße Sidonie. Und das, obwohl Leopold rote Unterhosen trägt! Als er sich streckte, rutschte die Jeans an seinem schmalen Hintern, und ich sah den roten Saum. Ein bißchen verdächtig ist das doch. Er schläft ja bei ihr, die Klausen haben keine Gästezimmer. Schlummert er wirklich in roten Unterhosen brav auf der Ikea-Liege, während Sidonie sich in den Schlaf lacht?
    Auf späten Faxwegen treffe ich vor dem Haus oder im Kaminzimmer die Kollegen, manchmal auch die erweiterte schreibende und bildende Runde. Wenn sie draußen sitzen, bleibe ich nur stehen und prüfe, ob sich’s lohnt: Zwei Wortführer der Runde verkrafte ich schlecht. Der eine ist Robert. Die andere Schirmmützen-Dora. Nur wenn jemand kocht, geselle ich mich dazu. Selten halte ich’s länger aus.
    Bei einer Käse-Lauch-Hackfleisch-Suppe bin ich sitzen geblieben, obwohl Robert über die Wende redete. Was ist die Wende? dachte ich, während ich gierig diese von Gideon gekochte Suppe verschlang. Jeder hat seine eigene Wende. Ich bin damals mit den Demonstranten bis vor die Leipziger Stasizentrale gezogen, aber nicht eingedrungen, obwohl es hieß, in den Höfen würden auf Scheiterhaufen Akten verbrannt. Ich fürchtete das Gedränge. In meiner Erinnerung sehe ich Stasileute in Zivil über die Dächer flüchten. Ein Dröhnen liegt über der Szenerie. Meine Beine gehen steif wie die eines Roboters, trotzdem fühle ich mich leicht. Alle Lichter im Gebäude erloschen – draußen drücken Demonstranten heruntergebrannte Kerzenstummel an die Fassade, die Stummel bleiben kleben, das Wachs fließt sacht brennend die Wand hinab, keiner schreitet ein, der bewaffnete Posten, der sonst vor der Runden Ecke patrouillierte, ist verschwunden. Dann erscheint ein Feuerwehrmann mit ungewöhnlich hohem Dienstgrad und löscht die Flämmchen; man frotzelt ihn an, er antwortet ironisch. Was für ein System? frage ich mich heute. Was für eine Staatssicherheit? Das waren ja nicht nur Schlapphüte, die hatten militärische Einheiten! Nun aber keine Gegenwehr, keine Schüsse, kein Putsch. Der revolutionäre Moment: wenn, laut Lenin, die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können. Unglaublich. Die Stasi macht das Licht aus und denkt, hoffentlich geht uns keiner an die Gurgel. Und wir Bürger lesen die nächsten fünfhundert Jahre Stasiakten.
    *
    Schreibtisch, Edeka, Faxbox, Schreibtisch, und an einem Abend keiner da, nicht mal in den Fenstern Licht – unheimlich … Als ich im Haupthaus den Lichtschalter suche, tritt mir aus dem Dunkel Gabriel entgegen, frisch geduscht und duftend, in heller Safarikleidung, mit herzzerreißend tapfer athletischem Schritt.
    Er holt tief Luft und atmet pfeifend aus. » Henry!« sagt er, » Es ist furchtbar!«
    Er umarmt mich.
    » Gut, daß ich dich treffe … Ich will nicht allein sein … Kommst du mit auf ein paar Kurze?«
    Genau das habe ich vermeiden wollen, Krankengeschichten, am Ende Sterbegeschichten … Ich blicke mich hektisch um, doch keiner kommt, mich zu retten. Wenigstens hat Gabriel eine legendäre Grappasammlung. Ich folge ihm also bang durch Kaminzimmer und Büro. Eine Tapetentür führt in ein separates Treppenhaus, wir steigen in den ersten Stock über knarrendes Holz.
    Gabriel nennt seine Wohnung ein Gesamtkunstwerk. Sie ist perfekt ausgebaut, zweigeschossig; die jahrhundertealten Dachbalken liegen

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