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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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Sie braucht lange, denn sie ist alt. Sie ist so alt wie ich.
    Als ich vor Jahrzehnten um Lotte warb, war Irmi deren Kollegin, und ich stand sogar vor der Wahl: Lotte oder sie. Nach meiner Scheidung von Lotte stand wieder Irmi bereit, doch diesmal wurde es Marita. Irmi blieb auch dieser Paarung geneigt, wie ich annahm wegen mir: eine Bibliothekarin, Dienerin der Literatur. Doch in jenem Winter unter den Trauerdohlen kam Irmi als Botin von Marita: Sie solle mir ausrichten, daß meine Frau mich aufgegeben habe.
    Ich schrie, ich weiß nicht, ob aus Schmerz über den Verlust oder aus Wut auf mich. Zu klar hatte ich Marita jahrelang beherrscht, zu sicher ihr durch Launen, Eifersucht und Werben jeweils die Gefühle entlockt, die ich brauchte. Während ich ihren wachsenden Widerstand mit immer neuen Finten besiegte, hatte sich meine Überlegenheit unmerklich in Abhängigkeit verwandelt. Jetzt öffnete sich der Boden unter mir. Ich schrie: » Marita soll selbst kommen!« – » Sie fürchtet sich.« – » Alles Einbildung, sie spinnt!« – » Nein, sie spinnt nicht«, sagte Irmi. » Vor Gericht wäre ich ihre Zeugin.« Ich brüllte, sie solle sich nie mehr blicken lassen.
    Ich sah sie doch wieder, in Berlin. Ich saß mit einem Dramaturgen vom Deutschen Theater im Pressecafé am Alex, und plötzlich trat Irmi ein – es war die Woche des Buches im Mai. Irmi blickte scharf nach links, ich scharf nach rechts. Blöde Szene: Zwei alte Menschen, verbunden durch Irrtum und Versagen, einander in Irrtum und Versagen verlierend.
    Perspektivwechsel. Was für ein Wort, habe ich zu Jakob gesagt. Die Perspektive ist der Mensch! Was wäre der Mensch, wenn er sie nach Gutdünken schleifen könnte wie ein Glas? Um Gutdünken gehe es nicht, sagte er. Sondern um den Mut, nach vorne zu schauen, anstatt chronisch wütend Verluste zu beschwören. Das ließ ich mir sagen und warf ihn nicht raus. Wenn ich ihn nicht rauswarf, wollte ich’s hören. Ich muß nicht lange überlegen, warum ich’s hören wollte.
    Sidonie.
    Perspektivwechsel, das wäre etwa, wenn der Weg nicht vom ostfriesischen Sommer in den Halleschen Winter hinabführte, sondern umgekehrt aus dem Halleschen Winter in den ostfriesischen Sommer herauf?
    Sidonie nähert sich über die Wiese, wie zur Bestätigung! Ich sehe sie kommen, ich freue mich, ich fürchte mich, ich schwanke.
    » Was hast du?«
    Was habe ich …
    » Du brütest.«
    » Ja …« Ich reiße mich zusammen. » Diese Dohlen! Wenn ich daran denke, daß sie im Winter nicht wegziehen! Mit ihren häßlichen Stimmen!«
    » Die haben eben immer was zu sagen.«
    » Deprimierend.«
    Sie lacht.
    Ich lache auch. Laß uns ins Haus gehen, möchte ich sagen. Heute morgen, beim Erwachen, habe ich an dich gedacht.
    » Bist du soweit?«
    » Wie weit?«
    » Wir müssen noch Belege kopieren.«
    Der Antrag auf Gerichtskostenerstattung. Allein das Wort reißt sich wie eine Harpune in meine labile Moral. Ach, hundert Belege, wie denn, hat keinen Zweck … Wo ist Halt? Gäste des Künstlerhauses dürfen gratis an den Rathauskopierer, auch das eine Leistung des Erzengels Gabriel. Aber das Rathaus hat bestimmt schon zu.
    » Warum sollte es zuhaben?« Sidonie arglos, direkt vor mir. Ich möchte nach ihr greifen. » Bleib hier. Ich mach dir Kaffee, wir können ein bißchen plaudern …«
    » Erst das Rathaus.«
    Gute Stunden … Das Rathaus hell und modern, ein properes Westrathaus mit höflichen Angestellten – auch das eine Zumutung, aber: Perspektivwechsel. Versuch: Ich stehe als Gast der ostfriesischen Regierung in diesem zufällig reichen Provinzrathaus, ehrenwerter Großkünstler einer nicht durch meine Schuld gescheiterten Republik der Träume. Sidonie, die Kleinkünstlerin, reicht mir nacheinander die Belege und heftet sie gewissenhaft wieder ein. Der Kopierer, hüfthoch, cremefarben und bei aller Masse elegant, kommt mir mit seinen Schächten und Klappen, den Sortierarmen und Knöpfen und Lämpchen wie ein Raumschiff vor. Er arbeitet frappierend schnell, saugt die Blätter ein, fotografiert sie mit einem kurzen Plop und spuckt sie wieder aus, Original und Kopie in der richtigen Folge sortiert. Ein typischer selbstgefälliger Wessi-Angeberapparat, dabei kann er längst nicht alles: Papiere, die kleiner sind als A5, muß man einzeln auf eine Glasplatte legen und dann noch einen schweren Deckel schließen, damit man nicht von grünen Blitzen geblendet wird. Viele meiner Papiere sind klein, kleine Zettel für kleine Honorare. » Das muß

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