Dichterliebe: Roman (German Edition)
alten Dame auf.
Die alte Dame ist vierundachtzig, übergewichtig und kurzatmig. Auf dem Weg zu ihrem Auto bleiben wir mehrmals stehen, damit sie verschnaufen kann. Sie habe bis vierundvierzig in Aue gelebt, erzählt sie, und sei dann zu den Schwiegereltern nach Nürnberg geflohen. Nein, sie sei eigentlich keine Leserin, keine Zeit. Mit zweiundfünfzig sei sie verwitwet, vier Kinder, da war einfach zu viel zu tun. Der Mann sei mit siebenundfünfzig gestorben, von der Kriegsgefangenschaft bei den Russen habe er eine Gastritis mitgebracht, die nie mehr heilte und dann auf die Lunge übergriff. Aber den Kindern gehe es gut, fünf Enkel, ein Urenkel. Da ein Sohn jetzt als Landschaftsplaner bei der Wismut arbeite, habe sie Gelegenheit, die alte Heimat zu besuchen.
Als wir vor ihrem Polo stehen, zeigt sie mir den Autoschlüssel: Im konkaven Plasteanhänger das Foto eines Babyköpfchens. Der kleine Anton, achtzehn Monate. Weil ich die Lesebrille schon verstaut habe, halte ich ihn mir direkt vors Auge. Auf Antons Rückseite das Gesicht eines Rauhaardackels. » Dess«, kichert die alte Dame, » is die klaane Susi.«
Vor dem Blauen Engel sagt sie: » Itze denken Se sicher schlaacht iber Aue.«
» Aber nein. Ich bin ja von hier.«
» Ach, Se sei von hier? Wie war noch emol dr Name?«
*
Im Hotelfernseher dann ein Kitschfilm. Ein alter Egoist und Misanthrop soll erlöst werden, wenn er jemandem eine Freude macht. Zunächst mißtrauen ihm alle, doch nach einigen leidlich komischen Episoden wird er geläutert. Ach Gott. Wie soll ein Menschenfeind jemanden finden, der sich von ihm erfreuen läßt? Da ziehe ich den Fliegenden Holländer vor, der bloß geliebt werden muß, damit er erlöst wird. Klappt zwar nicht, aber er kann wenigstens nichts dafür. Sidonie! Ich werde sie anrufen und sagen, daß ich mich nach ihr sehne.
Aber warum? wird sie fragen. Das traue ich ihr zu. Was soll ich antworten? Daß sie mich erlösen soll? Ich meine ihre gutgelaunte Stimme zu hören: Warum sollte ich? Ja, warum sollte sie? Was habe ich zu bieten? Unbekümmerte Sidonie, nichts weist bei ihr auf romantische Neigungen hin, ich sehe nicht die geringste Affinität zu Dämonie.
Abgesehen davon: Was gebe ich schon für einen Dämon ab, mittlerweile. Ich bin so demoralisiert, daß ich sogar jemandem eine Freude bereiten könnte. Ja, merke ich anderntags beim Frühstück im Blauen Engel, die Ära der schweren Kunst ist für mich vorbei. Ich wünsche mir einen operettenhaften Ausklang. Vielleicht sollte ich, bevor ich nach Zwickau fahre, bei Elsa vorbeischauen? Der Gedanke rührt mich. Meine arme, bittere Schwester. Sie lebt seit einem Schlaganfall vor zwei Jahren in einem Heim. Wahrscheinlich hat sie nicht mal mitgekriegt, daß ich hier bin. In meinem Adreßbuch finde ich das Heim sogar. Und Erich kommt sowieso erst abends nach Hause.
Ich besuche Elsa.
Das Heim ist in einer aufgelassenen Jahrhundertwendefabrik unterm Auerhammer untergebracht, rosa gekachelt, mit breiten Gängen aus grauem Estrich. Es riecht nach Urin. Aber die Zimmer sind groß und hoch. Elsa teilt ihres mit einer buckligen Greisin, die, als ich eintrete, den Finger an die Lippen hebt.
Elsa liegt, nur halb zugedeckt, auf einem hohen Bett und schläft. Ihr Nachthemd ist weiß, mit Spitzen, ihr Morgenmantel aus dunkelrotem Samt. Ihr Gesicht erstaunlich glatt, dabei wird sie einundsiebzig. Volle Wangen. Blondiertes, frisiertes Haar. Um das Bett herum ein paar Möbel, die ihre eigenen zu sein scheinen. Deformationsgebiet. Glücksstollen. Einfahrt in den Hinteren Grund.
Es ist fast still hier, kein Radio plärrt, nur eine Fliege wirft sich gegen die Scheiben. Elsa schlummert auf ihrer hohen Matratze dem Dunkel entgegen. Ich überblicke den Rückbau eines, wie mir erst jetzt bewußt wird, leidenschaftlichen Lebens, erkenne Samt, Spitzen und Dauerwelle als Requisiten letzter Privatheit nach einem lebenslangen Kampf um Autonomie. Den löchrigen Kelim, auf den Elsa so stolz war. Einen Biedermeier-Sekretär. Ein Bücherregal. Ich lese die Buchrücken. Alle Gedicht- und Prosabände von Heinrich Steiger sind dabei. Das trifft mich unerwartet. Ich habe bei Elsa immer Feindschaft vorausgesetzt. Warum? Aus schlechtem Gewissen? Natürlich hatte ich das. Und sie – hat sie mich wirklich gelesen? Mir wird warm. Mir wird kalt. Ich überlege, ob ich ein Bändchen rausziehen und nach Lesespuren oder Anstreichungen blättern soll. Unterlasse es, da die Nachbarin mich fixiert. Ich stehe immer noch da,
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