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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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Großvater wendete den Kopf hin und her nach allen Seiten und schien jedes Bild zu genießen. Schließlich sank sein blasser, milder Blick auf mich. » Wie’ch so alt war wie du, da konnt iech’s net erwardn eizefoahrn.« Er schüttelte lächelnd den Kopf wie über einen schlechten Scherz. Am Horizont sah man Schneeberg, die herrliche Stadt; auf ihrer Kuppe als Silhouette St. Wolfgang wie eine Zitadelle. Schneeberg war imposant mit seinem weißen Rathaus und dem viereckigen Turm, dem weiten Marktplatz, den prachtvollen, verschnörkelten Fassaden, Touristen riefen Ah und Oh, und all das verdankte sich dem Silber und Erz aus den Bergen. Aber der Reichtum dieser Berge war verseucht, weshalb Schneeberg auch der Name einer Krankheit wurde, die drei von vier Bergleuten tötete; die Schneeberger Pracht war erbaut auf den zerfressenen Lungen, den vergifteten Adern und den blutenden Kehlen der Bergleute. Mein Großvater hatte die meisten seiner Kumpel überlebt. » Guud, dass iech so zeidich bergferdich war«, sagte er. Bergfertig ist ein Bergmann, der nicht mehr kann. Großvater war mit dreißig soweit gewesen, seitdem rang er nach Luft. Was hatte er von seinen Jahren?
    Er hatte Licht. Das habe ich erst später verstanden: den Lichtkult der erzgebirgischen Bergleute, die monatelang keine Sonne sahen, sie fuhren im Winterhalbjahr bei Dunkelheit ein und bei Dunkelheit aus. Deshalb das Theater um Schwibbögen, Pyramiden und Kerzenkarussells, der ganze mir so verhaßte Erzgebirgskitsch. Großvater bot seine graue Wange der Sonne dar und lächelte: » Heerste de Veechel?« Ja, jetzt hörte ich sie: ein millionenstimmiges Geflöte und Gezwitscher aus dem fetten Laub der Wälder, aus allen grünen Büschen und Hecken des Schlematals.
    Vor zwanzig Jahren war ich das letzte Mal dort. Nach dem Krieg hatten die Russen die Verwaltung übernommen und suchten mit Dringlichkeit Uran für ihr Atomprogramm. Zehntausende Bergarbeiter trieben Schächte durch die Hügel, förderten Millionen Tonnen Erz und taubes Gestein, rissen mit immer potenteren Maschinen die Erde auf, warfen sie samt Baum und Strauch beiseite und karrten den Abraum darüber. Halden und Schlammteiche bildeten eine Mondszenerie, die ganze Straßenzüge verschlang. Durch Großmutters Küchenfenster sah man den steinigen Hang eines künstlichen Bergs, auf den Förderbahnen über stählerne Schienen Geröll schaufelten.
    Ich hatte als sozialistischer Jungdichter mit meiner Bergmannsfamilie punkten können. Sogar meinen Zynismus nahm man hin, er wurde meiner Jugend gutgeschrieben. Meine Dichtung, sofern sie mir was bedeutet, hat mit dem Erzgebirge nichts zu tun. Das Erzgebirge nutzte ich, weil die proletarischen Anklänge bei den Funktionären Erfolg hatten, und da mir der Funktionärserfolg peinlich war, tat ich es insgeheim parodistisch. Ich spielte mit dem Kitsch wie dem Pathos, variierte ironisch unvermeidlich Glück auf, der Steiger kommt, und bei Kollegen machte ich Eindruck mit meiner pornographischen Ode Der Tiefe Blühend Glücksstollen im Hinteren Grund, in dem zur Illustration eines ziemlich rasanten Akts ausschließlich Bergwerksbegriffe verwendet wurden, von Mundloch und Gezähe über Schmalzgrube, Vortriebsleistung und Schwanzhammerwerk in die untertägigen Weitungen. Die Ode wurde sogar vertont, durch den Staatskomponisten Riglewski. Der rhythmische, im Gestus kämpferische Choral mit seinem süßen, sich gleichsam auflösenden Schlußakkord war als Musik so überzeugend, daß ein erregter Zensor seinen Einspruch wegen » Dekadenz« zurückzog. Ich bekam Preise und fuhr ins Ausland, und auf solch einer Fahrt, zwischen Staatsbesuch und Preisverleihung, machte ich in meiner Heimatstadt Station. Eigentlich war es der Höhepunkt meiner Karriere. In Nordkorea hatten mich tausend Junge Pioniere am Flughafen empfangen und, während ich über einen roten Teppich schritt, Der Tiefe Blühend Glücksstollen im Hinteren Grund gekräht – in koreanischer Übersetzung. In Dresden würde ich den Großen Sächsischen Kulturpreis entgegennehmen. Der Zwischenhalt in Aue galt weniger den Verwandten als meiner Selbstvergewisserung. Ich wurde in Ehren empfangen und übernachtete im Blauen Engel, um nicht die Schlafcouch meiner verbitterten Schwester Elsa beziehen zu müssen.
    Am nächsten Vormittag holte ich Elsa in ihrem Wohnblock ab, und wir fuhren zusammen ins zerwühlte Schlema, das ich nicht wiedererkannte. Ich suchte den alten Gummibahnhof, fand mit Mühe zwischen den Halden

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