Dichterliebe: Roman (German Edition)
eingeschlagen oder herausgebrochen, doch die Mauern standen, und das Dach hielt dicht. Zu den wenigen Männern, die in der Stadt geblieben waren, gehörte der Schwiegervater, der wollte beim Wiederaufbau helfen.
Es kam anders. Am Morgen wurden alle Männer von den Russen zum Aufräumen auf den Marktplatz bestellt. Auch der Schwiegervater ging hin, mit seinem Uniformmantel aus dem ersten Krieg, und wurde, so wie alle, verhaftet. Man brachte sie in Kellern unter.
Warum im Keller?
» Eine Nachbarin fragte: Hörst du die Nachtengel schreien?«
Nachtengel?
Die Gefangenen wurden nachts gefoltert.
» Tja, leider«, murmelt Frau Scheuer, » dann war wieder nichts.«
Was, nichts?
» Wir Frauen standen wieder alleine da.«
In ihrer Ratlosigkeit bat sie die Mutter um Hilfe, » aber die wußte nicht mehr richtig Bescheid.«
Was heißt das?
Die Mutter reiste aus Storkow mit der Bahn an, auf dem Rücken eine Kiepe voll Gänsefedern für die Kinder.
Warum Gänsefedern?
» Ja, eben.«
Eines Tages, als Frau Scheuer von der Arbeit nach Hause kam, sah sie die Mutter vor dem Haus Löcher graben, um Bäume zu pflanzen. » Damit nachher alles weitergeht.«
Frau Scheuer zog allein die Kinder auf, » die mußten da durch, ob sie wollten oder nicht.« Sie überlebten und lernten Berufe, heirateten. » Jetzt sind sie alle fortgeflogen.«
Sie blieb allein.
» Letztes Jahr ungefähr« kam sie ins Heim. Sie erinnert sich, daß sie zu Hause auf dem Boden lag und schrie und keiner kam. Danach überredete die Krankenschwester sie, ins Heim zu gehen. Kann sie sich dort mit Leuten unterhalten?
» Ja, aber es werden weniger.« Überraschend: » Wir gehen ins Nichts.«
» Wenn Sie Ihr Leben wieder leben dürften, würden Sie das wollen?«
» Unter den Bedingungen nicht.«
» Unter welchen Bedingungen hätten Sie es gewollt?«
Frau Scheuer wird unruhig. » Habe ich was Falsches gesagt?«
*
Auf dem Weg nach Frankfurt an der Oder meine ich plötzlich zu zerfallen. Das heißt, ich habe mehrere Gefühle, die zunächst noch sich ergänzen: Ich bin feierlich gestimmt, lebhaft entsagungsvoll, wehmütig erleichtert, zuversichtlich furchtsam. Ich flechte in Gedanken zwischen Frau Scheuer und Sidonie ein buntes, pastellenes Band aus Tapferkeit und Schicksal, Zartheit und Mut. Ich bin sogar ein bißchen erregt. Dann zerreißt das Band. Meine Gedanken beginnen zu springen, daneben, erreichen nichts, alles auseinander, kein Halt. Als platzten die Bilder, als strömte Blut über meine Netzhaut, ich muß bremsen, weil ich die Straße nicht mehr sehe. Frau Scheuer – ins Nichts, Sidonie gleichgültig, wie konnte ich annehmen, ihr liege was an einer halberloschenen Greisin vom Müllhaufen der Geschichte? Auch heute keine Nachricht. Warum läßt sie mich im Stich? Warum läßt sie mich im Stich? Antwort: Ich bedeute ihr nichts. Die lebhafte Faxerei war ein Geschäker aus Langeweile, es ist ein Vergnügen mit Dir zu korrespondieren, Henry, du bist so unterhaltsam! Unterhaltsam! Ich springe aus dem Porsche und irre über den Seitenstreifen, jedes vorbeirasende Auto ein akustischer Schlag, was hetzen die, wo kommen die her? Halt aus. Ja, Henry, du bist ein Pausenclown. Fahr weiter und hol dir dein Gnadenbrot. Ich fahre weiter. Gib Gas. Zu schnell, Blitz aus Starenkasten, wütend. Wut? ist gut, gibt Kraft. Fahr in das verdammte verkommene Frankfurt, hol dir dein Ränftchen Gnadenbrot, kehr zurück und erschieße Sidonie.
*
Der Weg zum Gnadenbrot ist schwierig: Ich komme in eine unbekannte Stadt. Das Zentrum eine Baustelle, Einbahnstraßen umgedreht, kein Parkplatz, Straßen verstopft, ich stelle den Porsche in Bahnhofsnähe ins Parkverbot. Natürlich verlaufe ich mich. Früher wurde ein Schriftsteller am Bahnhof empfangen und zum Hotel geführt, eine Kulturhauskollegin wich ihm nicht von der Seite und dirigierte ihn unauffällig um die Kneipen herum. Heute kann er sehen, wo er bleibt. Wo bleibe ich? Wie kenne ich mich aus ohne das Einheitsgrau der Fassaden, den Schlagschutz über den Türstöcken, die Fallrohre, durch die der Regen auf die Straße stürzt? Ich habe eine Adresse, aber wahrscheinlich sind hier wie überall die Straßennamen geändert. Meine Wut steigert sich, als ich das Hotel finde: Es ist gar keins, sondern ein umgewidmeter Flachbau, auf dem immer noch die Aufschrift Haus der Jugend prangt. Pension Viadrina steht nur über dem Eingang . Auf der Fassade eine mauerfüllende Zeichnung: Lächelnde Werktätige treten, FDJ -Banner
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