Dichterliebe: Roman (German Edition)
Reiseführer: eine berühmte vierschiffige Hallenkirche der Backsteingotik; eine ehemalige Mönchsherberge, in der Theodor Fontane eine Brotsuppe aß …
Der Ort, der sich Stadt nennt, ist wie alle Städte hier teils verfallen, teils Baustelle, und hat nur im Zentrum ein paar perfekt renovierte Gebäude, zu denen wie überall das Rathaus und die Sparkasse gehören. Der Konsum heißt jetzt Aldi, der Wurstbräter Ali, das ist ein Türke mit Drehspieß. Der Marktplatz ist aufgerissen, orangeweiße Absperrbänder flattern im Wind, Arbeiter legen ein Kopfsteinpflaster an, ein Preßlufthammer dröhnt, Sand fliegt, gutes staubiges Brandenburg. Ich besuche die riesige Kirche, in der noch heute alle Einwohner Platz fänden, und wandere zur Mönchsherberge, die geschlossen ist. Auf dem Rückweg zur Burg finde ich sogar einen Friseur, Tina’s Haarstudio. Ich schaudere kurz vor dem angeblichen DDR -Apostroph, kann ihn selbst nicht mehr lesen, ohne mich zu schämen, und schäme mich meiner Scham. Trotzdem gehe ich hinein, da ich’s Sidonie versprochen habe. Dunkle Bude, Treppe rauf, muffig, Tapete mit Stockflecken, wirkt eher wie eine Geldwaschanlage. Oben aber in einem kleinen Zimmer gibt es tatsächlich einen Stuhl, einen Spiegel und eine Tina, die mir die Haare schneidet und sich dabei mit ihrer Hüfte an mich preßt, was ich so erotisch finde, daß ich Tina auffordere, immer kürzer zu schneiden. Hinterher meint sie: » Wenn Sie gleich gesagt hätten zwölf Milimeter, wär’s schneller gegangen.« Es kostet neun Mark fünfzig, ich gebe fünfzig Pfennig Trinkgeld und fühle mich als Held.
Held auf der Straße! Natürlich einsam, keiner kennt mich, niemand redet mit mir. Zurück zur Burg. Zweistufensprünge in den ersten Stock. Versammlungsraum noch immer geschlossen! Bestürzt ins dunkle Zimmer, unerträglich. Hinaus in den Burghof. Alle Plakate buchstabiert. Mit Grausen und Entzücken erkannt: Diese Burg ist das Zentrum der Strekosaer Kultur! Mit Grausen und Entzücken einen Brief an Sidonie geschrieben, auch wenn ich ihn noch nicht abschicken kann:
Liebe Sidonie, diese Burg ist das Zentrum der Strekosaer Kultur! Hier gibt’s nicht nur Freitagabend Tanz, nicht nur Samstagnachmittag Operette, nein, auch Gundermann, der singende Tagebau-Kranfahrer, tritt demnächst auf mit seiner Band » Seilschaft«, und die Woche drauf der Showmaster Quermann ( » Herzklopfen kostenlos«), ein fettleibiger Entertainer mit vernuschelter Stimme, eine Art DDR -Juhnke. Die Clowns Mensching und Wenzel, der eine seriöser Lyriker, der andere Agitschleuder, und beide links von links. Alles alte DDR -Ikonen, von mir totgeglaubt! Sind wieder da, und sicher werden sie bald miteinander die Brandenburg-Hymne singen, die da lautet: » Steige hoch, du roter Adler!«, ganz schöne Schweinerei, was?
*
Um 15 Uhr ist die Sekretärin wieder gesund und öffnet den Versammlungsraum. Während ich mein Fax in die Maschine schiebe, tritt ein Pulk älterer Herren ein, der lokale Schriftstellerverband, der mich sogar erkennt und wehmütig begrüßt, man bietet mir einen Stuhl an, obwohl ich nicht Mitglied bin, und ich, weiterhin entsetzt und entzückt, beobachte das Defilee der alten Helden: Marius Kley, in einem Dederon-Ringelpullover der 60er Jahre, war zu DDR -Zeiten ein ehrenwerter Schriftsteller, der sich gelegentlich sogar mit der Staatsmacht anlegte. Jetzt drängt er sich verschämt und geistesabwesend in diesem Bezirks- VS mit dem halbverrückten Tim Sprotte, dem Ex-Ministralen Tauentzien und anderen Betonköpfen; wohl um überhaupt eine Heimat zu haben. Betretene Altgenossen und abgewickelte Freigeister am Existenzabgrund.
Weltmännisch wirkt nur NVA -Rassel, ein echter Armeeoffizier: entspannt, kontaktfreudig, übrigens ziemlich elegant westlich gekleidet. Kanonen-Rohr im Pilotenjäckchen, Koteletten, kräftiger Baß, führt die Versammlung. Es geht um die unaufhörlich sich verschlechternden Bedingungen für Künstler in den neuen Bundesländern.
» Genossen!« sagt Rohr, die Anrede ein sichtlich genießerischer Scherz. » Wir wissen jetzt, wie die Freiheit aussieht. Früher mußte jedes eingesandte Manuskript vom Verlag binnen zwei Wochen bestätigt und binnen zwei Monaten bewertet werden, sonst galt es als angenommen. Heute wird die Einsendung überhaupt nicht mehr bestätigt, und auf die Bewertung kann man Jahre warten; hat man Glück, trifft nach Monaten ein hektographiertes Ablehnungsschreiben ein … Früher hatte jeder Verlag zwanzig
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