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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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einen so jähen Schmerz, daß ich auf die nächste Bank fiel. Da dachte ich an Dich und verzichtete auf die Kneipe. Ich lauschte dem Quaken der Enten und schlug nach den Mücken. Und dann fing ich ein Gespräch mit einer uralten Frau an, die neben mir auf der Bank saß. Sie erzählte unversehens ihr Leben, und weil das eine Geschichte für Dich ist, habe ich zugehört.
    Die Frau war siebenundachtzig, ein Häufchen Knochen und gerade noch funktionsfähiger Organe, das Auge matt, das Haar spärlich, ein paar weiße Strähnen um einen kahlen Kopf mit wunder Schläfe. Der Kopf wirkte so deformiert wie die ganze Gestalt. Sie konnte nicht mehr gehen, deswegen saß sie auf dieser Bank in der Hoffnung, daß jemand aus dem Altersheim sie abholte. Wir machten uns bekannt. Ich schriebe in Gedanken ein Gedicht, sagte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Frau Scheuer schien, noch auf der Schwelle zum Jenseits, beeindruckt.
    Warum spricht man beim Anblick nur junger Menschen Tiere Blumen vom Wunder des Lebens? Ist nicht auch diese Frau eins? Da pumpt ein müder Muskel noch ein bißchen wäßriges Blut durch mürbe Adern und belebt ein Gehirn, das achtzig Jahre Geschichte und Schicksal aufgenommen hat; ein Bewußtsein, das demnächst zerfallen wird, aber bereit ist, uns noch einen letzten Blick darauf zu gewähren, bevor die Tür zufällt.
    » Nach Strekosa bin ich gekommen, da war ich vier.«
    Die Burg war damals Kriegsgefangenenlager. Russische Soldaten malten auf die östliche Burgmauer eine große Ikone, die noch zwanzig Jahre später als Attraktion galt. Leute kamen angereist, um sie zu sehen, auch das Kind war hingerissen. Was zeigte das Bild? » Das weiß ich nicht mehr. Einen Engel oder so. Aber sehr schön.«
    Kurz vor Kriegsende fiel der Vater.
    Mit fünfzehn wurde sie Zimmermädchen im Hotel zum Schwan. Sie erinnert sich an den Mann, der immer mit dem Ponywagen zum Bahnhof fuhr, um mögliche Gäste abzuholen. Aber der wurde es nicht. Sie fand einen anderen Mann.
    Wie fand sie ihn?
    Sie tanzte mit ihm auf einem Betriebsfest, und danach lud er sie ein paarmal in die Gaststätte Ewald zum Bier ein.
    Weshalb hat sie ihn genommen?
    Sie weiß es nicht mehr. Sah er besser aus als andere? Nein. War er besonders nett? Nein. War er gütig? Sie denkt nach. » Nein.« Er war eben da, er suchte eine Frau, sie suchte einen Mann.
    Von Beruf war er Holzfäller. Sie bekamen vier Kinder. Glück?
    » Wieso Glück? Das machte man damals so.«
    Kann sie sich an irgendein Glück erinnern?
    Der Mann habe erzählt, wie schön es sei, wenn sie winters im Wald ein großes Lagerfeuer machten. Die Arbeiter zogen ihre gefrorenen Socken aus und hängten sie – nicht zu nah – neben das Feuer, und später, wenn sie sie trocken wieder anzogen, das war das höchste Glück.
    Deutlicher erinnert sie sich ans Unglück. Die Nazizeit zum Beispiel. Es gab einen jüdischen Händler, bei dem durfte man nichts mehr kaufen. Die Schwiegermutter ging noch hin, sie selbst nicht mehr.
    Warum nicht?
    » Ich hatte Angst.«
    Wovor?
    » Schwierigkeiten.«
    Mit der SA ?
    » Mit den Deutschen.«
    Wer hätte sie verpfiffen?
    » Es standen ja immer Männer vor dem Geschäft.«
    Was für Männer? Von wo?
    » Strekosaer.«
    Dann wurden die Juden weggebracht. Wohin?
    » Man sammelte sie und brachte sie nach Strackow, da war ein Lager. Wenn es bei Ostwind aus Richtung Frankfurt so eigenartig roch, ein bißchen nach Hufschmied, wußte man, das Krematorium hat Hochbetrieb.«
    » Das wußten Sie?«
    » Jeder wußte das.«
    » Also hat es Ihnen jemand erzählt. Haben Sie es weitererzählt?«
    » Darüber sprach man nicht.«
    Inzwischen war Krieg. Der Ehemann wurde eingezogen, er kam zweiundvierzig schwerkrank zurück. Frau Scheuer arbeitete bei der Post, um die Familie zu ernähren, so daß sie nicht bei ihm war, als er starb.
    Als die Bombenangriffe begannen, sollten Frauen und Kinder evakuiert werden, aber es fuhren keine Züge mehr. Frau Scheuer setzte ihre vier Kinder und sieben Sachen auf einen Handwagen und zog aufs Land zu Verwandten. Aber die Verwandten hatten selber keinen Platz und auch nichts zu essen, deshalb kehrte die Familie in die zerstörte Stadt zurück, gemeinsam mit anderen abgewiesenen Evakuierten. Ihnen entgegen kam eine Handwagenkolonne. » Die wunderten sich: Alle ziehen fort, und ihr kommt her? – Ja, sagten wir, wo sollen wir sonst hin?«
    In der Stadt war inzwischen die russische Armee.
    Familie Scheuer bezog wieder ihr Häuschen. Die Fenster waren

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