Dichterliebe: Roman (German Edition)
und böse bis zu meinem zwanzigsten Jahr. Theo aber genoß die Kinderfreiheit dieser Nachkriegsjahre, in denen die Eltern mit dem Aufbau beschäftigt waren. Die Städte, durchsetzt von Freiland und Brachen, Abenteuerspielplätze. Kindersex in einer bewachsenen Ruine: Durch Gestrüpp gelangte man in den Keller. Man reichte sich Bonbons von Mund zu Mund. Ein Mädchen namens Liese nahm auch Frösche und Kaulquappen in den Mund, für zehn Pfennig. Das war viel. Für einen Groschen bekam man eine Süßstange, oder zwei Stück Lakritz, oder zwei Brausepulver.
» Von da an ging’s bergab. Und jetzt? Ick hätt doch sollen die Kalaschnikow kaufen.«
» Oder wenigstens ne Makarow.«
» Wie, haste ooch ’n Nebenbuhler?«
» Noch nicht.« Gequält.
» Ah, dein Luxusdorf? Und die Anjebetete trillert rum?«
Düsternis. » Wenn ich sie nicht bald vögle, wird es ein anderer tun.«
» Weeß sie denn, wie et um dir steht?«
» Nein …«
Das heißt, ich bin nicht sicher. Was soll ich tun? Ihr ein Fax schreiben … ihr ein Fax schreiben: Was, wenn ich anfange, dich zu lieben? Ich sehe sie vor mir, wie sie die Antwort kritzelt, verschmitzt, selbstbeglückt: Vorsicht, Gefahr! und ich antworten muß: Zu spät. Was für eine Peinlichkeit. Am öffentlichen Fax, jeder kann mitlesen. Schon meine bisherigen Faxe konnte jeder mitlesen, aber die waren nicht peinlich, die waren Plauderei. Schämen müßte ich mich für den Ernst.
» Es ist zu spät«, sage ich.
Als ich aufstehe, um auf die Toilette zu gehen, dreht sich alles.
» Los, Mann! Geh zu ihr und laß deinen Drachen steigen!«
» Ich bin am Ende«, sage ich. » Warum sollte eine junge Frau mich nehmen? Wenn ich’s überhaupt bis zur Rente schaffe, werde ich 621 Mark im Monat bekommen, das reicht nicht mal für die Miete …«
» Sic transit gloria mundi! Hey, Henry, mein Klassiker! Früher haste vom Weltruhm jeträumt, und jetzt geht dir die Muffe, daßtes nich zur Rente schaffst?«
» Seit ich mein Grab sah , will ich nichts, als leben, / Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei.«
*
An die Veranstaltung selbst habe ich wenig Erinnerung. Eine Mammutlesung von dreißig Schriftstellern, ein Abschlußmanifest der DDR -Literatur, von den Veranstaltern als Inventur bezeichnet, wozu Theo witzelte: » Von Inventur zur Insolvenz geht schneller als von Tripper zu Karenz.« Ein Schriftsteller nach dem anderen wurde aufs Podium geschickt – » Zehn Minuten!« – und las ein paar Seiten. Wer die Regie hatte, weiß ich nicht. Das Publikum bestand ebenfalls aus Literaturleuten, wahrscheinlich war kein einziger ehrlicher Frankfurter dabei. Ich bekam Szenenapplaus für Der Tiefe Blühend Glücksstollen im Hinteren Grund, wozu ich bemerken darf, daß meine betäubte Zunge alle Klippen der Bergwerkssprache meisterte, und erntete frohes Gelächter für ein paar hysterische Nachwendegedichte. Ich erinnere mich, daß in der anschließenden Pause Wigald Herrlis, der seit langem verstummte Gedankenlyriker, mir mangelnden Realitätsbezug vorwarf. » Wie weit ist es mit dir gekommen! Das ist ja Pop-Art«, sagte er streng, » Auf diese Weise verarbeiten wir nichts!« – In dem Moment bemerkte ich ein Tablett mit Sektgläsern, das vorübergetragen wurde, und stürzte hinterher. Ich trank und griff schon das nächste Glas, da stand jemand neben mir, der mir die Antwort vorwarf, die ich Wigald Herrlis gegeben haben soll: » Dann schreib doch selber was, du Leiche! Mal wieder n Gedicht!«
Das zweite Drittel der Veranstaltung überstand ich nur mit Mühe. Als der besoffene Theo auf die Bühne geschoben wurde, kamen Pfiffe und Zwischenrufe aus dem Publikum: » Wer bist du Arschloch?« Später stellte sich heraus: Theo sprang für den erkrankten – oder noch betrunkeneren – Walter Pandur ein. Er hatte das nicht gewußt. Er wankte zu dem kleinen Tisch, der mitten auf der Bühne stand, und verlor fast das Gleichgewicht, als er, sich um sich selbst windend, in Hosen, Hemd- und Jackentaschen seine Lesebrille suchte, die er bereits auf der Nase trug. Zum ersten Mal wirkte er erschüttert. Er fiel auf den Holzstuhl und sagte trotzig: » Ick will hier jetze lesen. Dazu bin ick hier.« Der Tumult löste sich in Gelächter, und Theo las, ich weiß nicht mehr was. In der nächsten Pause trat eine alte Dame mit elfenbeinfarbenen Strähnen im dunklen Haar auf ihn zu und reichte ihm die Hand: » Entschuldigen Sie bitte meinen Zorn vorhin. Ich dachte, Sie seien Walter Pandur.«
*
Ich erwache in meinem
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