Dicke Moepse
einem Schlag lösen. Über die ganzen Probleme, die eine Ehe verursachen würde, mag ich gerade nicht nachdenken. Stattdessen klingelt wieder irgendwo ein Handy, und alle Personen im Umkreis von vier Metern beginnen, wie wild in ihren Taschen zu kramen. Diesmal ist es für mich.
»Ja?«, raunze ich genervt in den Hörer.
»Rosi? Bist du’s?« Mein Magen rutscht mir in die Kniekehlen. Binnen Sekunden verschwindet der komplette Speichel aus meinem Mund. Ich huste und stammele nur ein knappes »Ja!«.
Carla beobachtet mich interessiert und begreift sofort. Sie entfernt sich vorsichtig ein paar Schritte von mir und sieht sich unauffällig um. Dann bedeutet sie mir weiterzusprechen.
»Wo bist du, René?«, frage ich schnell und füge noch ein »Sch … schön, von dir zu hören« hinzu, damit es glaubwürdiger klingt. Ich bin wahnsinnig nervös. Was ist, wenn er irgendwo auf einem der Dächer lauert und mir gleich eine Kugel in den Kopf jagen will, dieser irre Betrüger?
»Ich liebe dich, Rosi!«, haucht er stattdessen ins Telefon.
»Aber wieso bist du denn dann abgehauen?« Ich hatte mit Carla besprochen, das Gespräch so lange wie möglich in Gang zu halten. »Ich brauche Zeit!«, hatte sie mir eingebläut. »Zeit und Hinweise zu seinem Standort!«
Also frage ich weiter: »Können wir uns denn nicht treffen?«
Ich höre, wie René am anderen Ende der Leitung so schwer atmet, als würde er gerade an sich selber herumspielen. Ich schüttele den Kopf, um die unangenehme Vorstellung aus meinen Gedanken zu vertreiben. Nur nichts anmerken lassen! Mein Blick wandert durch die Menschenmenge, und ich entdecke Andreas, der mich wohl gerade beobachtet hat. Er fühlt sich ertappt und blickt hastig in eine andere Richtung. Ich drehe mich um 180 Grad und schaue jetzt genau in Richtung Ausgang. Das Tor ist mindestens zweihundert Meter entfernt. Ziemlich weit für einen Sprint, wenn man nicht in Form ist, aber nah genug, um zu erkennen, wer sich da so alles auf den Weg zu unserer kleinen Sammelaktion macht. Dann sehe ich das Unfassbare. Und mit »unfassbar« meine ich, noch unfassbarer als alles, was mir in den vergangenen Wochen passiert ist.
Mitten im Gedränge steht René mit seinem Handy, und ich kann sehen, wie er mit seinen Lippen die Worte formt, die etwas zeitversetzt bei mir ankommen: »Würdest du dein bisheriges Leben für mich aufgeben?«
Diese Frage aus seinem Mund klingt wie pure Ironie, denn schließlich müsste ich, wenn ich ihn tatsächlich wollte, nicht für ihn, sondern seinetwegen mein bisheriges Leben aufgeben.
Mir läuft es heiß und kalt den Rücken hinunter, und in meinen Schläfen pocht es so laut, dass ich mir einbilde, mein komplettes Umfeld könnte es hören.
»René, ich würde dir gerne eine zweite Chance geben … ich …«, stammele ich ratlos.
Ich fixiere Carla und bedeute ihr, dass ich unseren Bösewicht entdeckt habe, doch sie scheint ihn nicht zu sehen. Habe ich jetzt schon Halluzinationen? Warum kapiert sie nicht? Da! Jetzt hat sie ihn endlich im Visier. Langsam, im Tempo einer italienischen Weinbergschnecke, bewegt sich Carla in Richtung Ausgang. Mir stockt der Atem.
»Rosi?«, fragt René am anderen Ende der Leitung und holt mich wieder in die Realität zurück.
»Ja?«, antworte ich hastig. Oh Carla, beeile dich bitte!
»Ich wollte das alles nur für uns tun. Aber am nächsten Morgen, als ich dir alles erklären wollte, warst du nicht mehr für mich zu sprechen. Rosi! Ich wollte mit dir ein neues Leben anfangen!« Inzwischen japst er fast.
»Ja«, sage ich knapp und lasse ihn dabei nicht aus den Augen.
»Rosi? Hast du mich verraten?«, schreit René jetzt schrill. Dann höre ich einen dumpfen Schlag, gefolgt von Tuten. René hat Carla entdeckt und sein Handy fallen lassen. Ich sehe, wie er Fersengeld gibt und über die Straße sprintet. Doch da hat er die Rechnung ohne Carla gemacht, und ich werde Zeugin, wie schnell man auf High Heels innerhalb von Sekunden beschleunigen kann. Carla hastet mit geschätzten 80 Stundenkilometern über die Straße. Reifen quietschen, Autos hupen … dann wirft sie sich mit ausgestreckten Armen durch die Luft wie eine Raubkatze und landet direkt auf René.
Binnen Sekunden hat sich eine Traube von Leuten um die beiden gebildet. Praktisch, so kann René nicht mehr entkommen. Carla legt ihm mit geübten Bewegungen die Handschellen an und verständigt die Kollegen vom Revier. Ich drängle mich durch die Menschenmenge, bis ich die beiden erreiche.
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