Dickner, Nicolas
Postfächer, die abgewetzten Schalter, die ausgebleichten Aushänge, auf denen die Freuden der Philatelie gerühmt wurden – und vor allem diesen charakteristischen Duft, der sich hauptsächlich aus Papierstaub, Stempelkissen und der Kautschuknote von Gummibändern zusammensetzte.
Während er das Flair der Poststelle in sich aufsog, fragte Sarah den Mann am Schalter, ob er nicht einen Brief für sie erhalten habe. Der alte Mann nahm die Kiste, in der die postlagernden Sendungen für Mair aufbewahrt wurden – mit Sicherheit eine der am wenigsten gebrauchten Adressen der Welt –, in der zu seiner Verwunderung tatsächlich eine Postkarte lag. Er betrachtete sie ohne Eile, bevor er sie schließlich umdrehte, um nachzuschauen, an wen sie adressiert war.
„Sarah and Noah Riel, right? Got an ID?“
Während Sarah noch ihre Taschen nach einer alten Krankenversicherungskarte durchsuchte – einen Führerschein hatte sie nie besessen –, sah er sich die Postkarte ganz unbekümmert etwas genauer an. Noah, am Schalter festgekrallt, trat von einem Fuß auf den anderen und betrachtete das Äußere des kleinen Angestellten (weinrote Krawatte, nikotingelber Schnurrbart) in stummer Feindseligkeit. Sobald ihm Sarah ihre Karte hinhielt, riss er dem Mann die Postkarte aus der Hand und flitzte zum Ausgang.
Als Sarah ihn eingeholt hatte, saß er im Staub auf der Treppe zur Poststelle und bestaunte ihr beider Wunder für 35 Sous. Auf der Vorderseite war das Foto eines Buckelwals in vollem Sprung abgebildet, ein Vogel von dreißig Tonnen, mit weit geöffneten, riesigen Kiefern, der vergeblich versucht, seinem Element zu entkommen. In einer Ecke des Fotos hatte der Grafiker kursiv und kirschrot I love Alaska hinzugefügt. Auf der Rückseite hatte Jonas drei gewundene Sätze geschrieben, die Noah erfolglos zu entziffern versuchte – vor allem deshalb, weil er zu dieser Zeit noch nichts lesen konnte, was nicht auf einer Straßenkarte gedruckt stand. Er widmete seine Aufmerksamkeit stattdessen der Briefmarke, auf der eine Muschel zu sehen war, durch die quer hindurch der Poststempel ging.
Er blickte Sarah fragend an.
„Nikolski?“
Sie machten sich eilig daran, die Karte von Alaska auf Granpas glühend heißer Motorhaube auszubreiten. Noahs Zeigefinger rutschte den Index hinunter, fand die Koordinaten von Nikolski – Quadrant E5 –, fuhr in einer langen Bewegung diagonal über die Karte und blieb auf der Insel Umnak stehen, einem verlorenen Fleckchen Erde in der endlos langen Wirbelsäule der Aleuten, weit entfernt in der Beringsee.
Mit einem blauen Füller umkreiste er das winzige Dorf Nikolski an der Westspitze der Insel, trat dann einen Schritt zurück, um die Karte im Ganzen zu betrachten.
Die nächste Straße endete in Homer, 800 Seemeilen weiter östlich.
„Aber was hat Jonas denn da verloren?!“, schrie Noah mit zum Himmel gestreckten Armen.
Sarah zuckte die Schultern. Sie falteten die Karte wieder zusammen und fuhren weiter, ohne noch mal darüber zu reden.
Nach Nikolski bekamen sie von Jonas keine Postkarten mehr. Sarah schrieb ihm weiter, als ob nichts sei, im Glauben, es handele sich um eine vorübergehende Widrigkeit des Zufalls, doch die Monate verstrichen, Postamt folgte auf Postamt, und die Funkstille dauerte an.
Mehrere Gründe hätte es für Jonas’ Schweigen geben können. Der vernünftigste war, dass das zarte Wunder ihrer Korrespondenz einfach beendet war, dass jeder Brief, den sie die Jahre über voneinander bekommen hatten, eine inakzeptable Ausrenkung der unabänderlichen Gesetze des Zufalls gewesen war, die ihre Rechte nun schlichtweg wieder geltend machten.
Aber Noah, mit dem eigensinnigen Charakter eines kleinen Nomaden von sechs Jahren, wollte von unabänderlichen Gesetzen welcher Art auch immer nichts wissen. Mit starr auf den Horizont gerichtetem Blick machte er sich kilometerweise düstere Gedanken und versuchte sich vorzustellen, was Jonas in Nikolski so treiben konnte. Er hatte sich ohne Zweifel in eine Aleutin verliebt und wollte jetzt ein neues Leben anfangen und alle bisherigen Versuche ausradieren. Noah stellte sich eine ganze Herde von schlitzäugigen Halbbrüdern und Halbschwestern vor, kleine sesshafte Windelkacker, die die gesamte Aufmerksamkeit seines Vaters in Beschlag nahmen.
Mehrfach schlug er Sarah vor, Jonas einen Überraschungsbesuch abzustatten, in der Absicht, ihn auf frischer Tat zu ertappen. Warum sollten sie nicht, anstatt ein weiteres Mal nach Medicine Hat
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