Dickner, Nicolas
sich die Universität befand. Es stand außer Frage nach Winnipeg oder Saskatoon zu gehen: Noah wollte heraus aus dem Handschuhfach, über den Horizont springen. Aber über welchen Horizont?
Nach Süden? Die Vereinigten Staaten interessierten ihn nicht. Nach Norden? Keine ernsthafte Option, falls nicht zwischenzeitlich noch eine Zentraluniversität der Baffininsel eröffnet würde. Nach Westen? Der war allüberall zerlöchert, durchsichtig und fettig wie die Landkarten aus dem Handschuhfach. Der Westen war sein Vater, der weit entfernte und geheimnisvolle Mann, der mit seinem Aleutenstamm auf einer verlorenen Insel in der Beringsee lebte, sich von rohem Lachs ernährte und seine Jurte mit getrocknetem Schafdung heizte – ein wenig erbauliches väterliches Vorbild.
Er würde also nach Osten gehen.
Heimlich schrieb er an eine Universität in Montréal. Eine Woche später trafen die Immatrikulationspapiere postlagernd in Armada ein.
Noah hatte Angst davor, seiner Mutter etwas von seinem Vorhaben zu verraten. Er rechnete mit einem flammenden Vortrag gegen Montréal, Hafenstadt, wichtige Etappe der Schifffahrtsstraße Sankt-Lorenz-Strom und belebte Metropole – kurz, nicht mehr und nicht weniger als ein menschenfressender Leviathan. Dem war nicht so. Beim Aufreißen des Umschlags betrachtete ihn Sarah und verzog das Gesicht.
„Eine Insel . . .“, murmelte sie, mehr sagte sie nicht.
Anstatt seine Energie mit zwecklosen Plädoyers zu vergeuden, zog Noah sich in den Wohnwagen zurück, um den Inhalt des Umschlags genauer zu betrachten – insbesondere den Studienführer, ein dicker Atlas mit den verschiedenen Laufbahnen, die er von nun an einschlagen könnte. Er suchte zunächst nach dem Diplom in angewandtem Nomadismus oder dem Bachelor in Internationalen Irrfahrten , die einzigen Fächer, für die er sich ein wenig geeignet hielt, jedoch fand in dem Ratgeber kein Studiengang dieser Art Erwähnung. Er müsste wohl vorliebnehmen mit dem, was es gab, und so begann Noah, den Studienführer von der einen Umschlagseite bis zum anderen ohne Auslassung durchzulesen, von Adaptronik bis Zenologie über Angewandte Betriebswissenschaften, Meinungseintrichterung und Stumpfsinnigkeitsstudien . Diese einschläfernde Lektüre hatte ihn alsbald übermannt und er kippte vornüber in den Ratgeber. Eine Stunde später tauchte er wieder auf, ihm war übel. Er schaute sich um in der Hoffnung, die Umgebung wiederzuerkennen. Der Wasserkocher zeigte ihm das Bild seines deformierten Gesichts. Mitten auf der Stirn hatte die billige Druckerschwärze ein rätselhaftes Wort hinterlassen: Archäologie .
Noah zuckte die Schultern und bewertete dies als einen Wink des Schicksals.
Als Sarah schließlich aus ihrem Schlafsack steigt, hat sich der Nebel verzogen und Noah hat den Frühstückstisch gedeckt. Sie essen schweigend, umgeben von den scharfen Ausdünstungen der Herbizide, die aus dem Bewässerungsgraben aufsteigen. Noah nagt lustlos an einer Scheibe Toast mit Honig und lässt sie, kaum dass er sie angefangen hat, schon wieder liegen. Sarah beschränkt sich darauf, zwei Tassen kochend heißen Tee zu trinken.
Das Frühstück geht abrupt zu Ende. Sarah reißt Honigtopf und Teekanne an sich und klappt den Tisch zusammen, als gäbe es plötzlich Grund zur Eile.
Während sie die Abreise vorbereitet, überprüft Noah ein letztes Mal den Inhalt seines Rucksacks – nur das Allernotwendigste, sorgsam ausgesucht. Von ihrem Tisch in der Küche aus verfolgen die chipewyanischen Ahnen jede seiner Bewegungen mit dem üblichen Unverständnis.
Später mustert Noah, auf seiner Liege hockend, ausführlich den Innenraum des Wohnwagens in der Hoffnung, ein Detail zu entdecken, das ihm in den letzten achtzehn Jahren durch irgendein Wunder entgangen wäre. Er findet nichts und beendet die Bestandsaufnahme mit einem kleinen Seufzer.
Er zurrt die Takelage seines Rucksacks fest, wirft ihn sich über die Schulter und verlässt den Wohnwagen.
Sarah hat sich bereits ins Auto gesetzt, die Hände auf dem Lenkrad schaut sie in ungeduldiger, abweisender Haltung auf die Straße. Noah öffnet die andere Autotür und macht Anstalten sich zu setzen, einen Fuß im Wagen, den anderen auf dem festen Boden. So verharren sie einige Minuten lang, ohne etwas zu sagen, den Blick nach Westen gerichtet.
„Soll ich dich am Transcanadian rauslassen?“, fragt Sarah schließlich.
Er verzieht das Gesicht, betrachtet den winzigen Highway 627. Hier in der Gegend ist nicht viel
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