Dickner, Nicolas
zurückzukehren, den Highway nach Alaska hinauffahren, bis nach Anchorage und dort dann eine Fähre nach Nikolski nehmen?
Sarah lehnte mit ausweichendem Blick ab. Auf das Drängen, ihre Ablehnung zu erklären, gab sie vor, Jonas hätte Nikolski längst verlassen. Manchmal ging sie sogar so weit zu sagen, dass Jonas auf See in Richtung Wladiwostok unterwegs war oder dass er sich nach Fairbanks davongemacht hatte. Die meiste Zeit aber blieb sie stumm, drehte das Radio lauter und tat so, als habe sie nichts gehört.
Noah, der nicht auf den Kopf gefallen war, vermutete einen Fall von Hydrophobie – einem chronischen Unvermögen, sich dem Meer nähern zu können. Ein geschicktes Befragungsgespräch erlaubte es ihm, seine Diagnose bestätigt zu finden.
War sie schon einmal in Vancouver gewesen?
Sarah verzog das Gesicht.
War es schon einmal vorgekommen, dass sie die Mitte des Landes verlassen hatte?
Sie hatte nie einen Grund dafür gesehen.
Ob sie denn keine Lust hatte zu erfahren, was sich auf der anderen Seite der Rockys befand?
Auf diese letzte Frage antwortete Sarah plump, dass es nicht nötig sei, dort hinzufahren, da sie im Besitz mehrerer Landkarten waren, mit denen diese im Übrigen völlig belanglose Frage geklärt werden könne. Noah, der die Ressourcen des Handschuhfachs schon seit langem erschöpft hatte, entschied sich, die Frage direkt zu stellen:
„Wolltest du noch nie den Pazifik sehen?“
Sarah antwortete mit nein, sie habe nie wirklich den Gestank von Möwendreck und verwesendem Seetang in die Nase kriegen wollen. Die Antwort, eine geschickte Mischung aus Verachtung und Gleichgültigkeit, konnte ihr panisches Zusammenzucken jedoch nur schlecht verbergen.
Noah schüttelte den Kopf. In seinem kleinen inneren Atlas markierte er Nikolski mit einem Kreuz.
Die Zeit verging im ozeanischen Rhythmus von Granpa . Nichts schien sich verändert zu haben, außer vielleicht die Ausmaße der Roststellen an den Flanken des 66er Bonneville. Sarah fuhr, Noah wuchs, und ihr Wohnanhänger schien immer noch von einem Kreisfluch geschlagen. Im Juli sah man ihn nahe beim Lac des Bois an der Grenze zu Ontario; am Weihnachtsabend konnte man ihn im südlichen Alberta auf dem verlassenen Parkplatz eines People’s zu Gesicht bekommen; im März begegnete man ihm am nördlichen Ende des Winnipegosissees, eingeschneit auf einem Rastplatz für Fernfahrer; im Mai durchzog er den Süden von Saskatchewan – und im Juli stand er wieder am Lac des Bois, zurück am Ausgangspunkt mit der Genauigkeit eines Pottwals auf seiner Wanderung.
Noah hatte mit niemandem Freundschaft geschlossen – eine unangenehme aber notwendige Entscheidung. Wenn sie mit ihrem Wohnwagen an einem Schulhof vorbeifuhren, besah er sich die Vielzahl seiner möglichen Freunde. Auf der anderen Seite des Zauns waren sie zu Hunderten, die Basketball spielten, auf die Lehrer schimpften, in Kreisen herumstanden, um an einer Zigarette zu ziehen. Einige warfen begehrliche Blicke hinüber zur Straße. Der alte, silberne Wohnwagen übte auf sie eine sonderbare Anziehung aus, so als würde eine Horde Mongolen durch eine Vorstadtsiedlung galoppieren. Mit den Fingern im Gitterzaun beneideten die Gefangenen das Nomadenvolk.
Noah zog die Möglichkeit in Betracht, sich aus dem Wagen zu werfen.
Die Vorstellungen vom Glorreichen Mobilen Leben In Nordamerika teilte er nicht. In seinen Augen war die Straße nichts weiter als ein enges Nirgendwo, das an Steuerbord und Backbord von der wirklichen Welt eingesäumt war – einem faszinierenden, unerreichbaren und unvorstellbaren Ort. Die Straße hatte so gar nichts mit Abenteuer oder Freiheit zu tun und bedeutete auch keineswegs die Abwesenheit von Mathematikhausaufgaben.
Jeden Herbst kaufte Sarah die entsprechenden Schulbücher und er schloss sich im Wohnanhänger ein, um mit vollem Eifer zu lernen, da er glaubte, dass Mathematik und Grammatik seine einzige Hoffnung waren, eines Tages in die wirkliche Welt gelangen zu können.
Dreizehn Jahre waren seit der Postkarte aus Nikolski vergangen. Noah hatte gerade seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert. Es war an der Zeit, den Wohnwagen zu verlassen. Er wartete nur noch auf die Prüfungsergebnisse vom Bildungsministerium in Manitoba, bevor er seinen Fluchtplan in die Tat umsetzte. Sobald er sein Abschlusszeugnis der zwölften Klasse in Händen hielt, würde er schnellstens an die Uni gehen. Das Fach, das er studieren würde, beschäftigte ihn weitaus weniger als der Ort, an dem
Weitere Kostenlose Bücher