Dickner, Nicolas
Verkehr, aber was tut das? Es gibt keine Eile. Halbherzig lässt Sarah Granpas Motor an. Sie hört dem satten Schnurren des Achtzylinders zu und lauscht mit gespitzten Ohren nach auffälligen Geräuschen, während Noah nach einem denkwürdigen Satz sucht, um dieses Kapitel seines Lebens abzuschließen.
Unvermittelt beugt sich Sarah nach vorne zum Handschuhfach, öffnet es mit einem Faustschlag und greift nach dem Buch ohne Gesicht.
„Vergiss das hier nicht.“
Noah zögert kurz, öffnet seinen Rucksack einen Spalt breit und quetscht das alte Buch zwischen zwei Pullover. Die Bindung ist bröckelig wie Lehm, und er hält die alte Karte der Karibik lose in den Händen, abgenabelt.
Dann geht alles ganz schnell: Sarah drückt ihn schweigend an sich, so fest sie kann, bevor sie ihn mit Tritten aus dem Wagen stößt. Noch ehe er Zeit hat, irgendetwas zu sagen, kuppelt sie ein und braust mit noch offener Tür auf dem knirschenden Schotter davon.
Eine Minute später steht Naoh alleine am Straßenrand mit seinem aufklaffenden Rucksack, einer zerknitterten, alten Karibikkarte in der Hand und einem Kloß Asphalt im Magen. Er atmet tief durch, faltet die Karte und steckt sie in die Hemdtasche. Dann zieht er seinen Rucksack zurecht und läuft los nach Osten, mit zusammengekniffenen Augen, direkt in die Sonne, die noch knapp über dem Horizont steht.
In einiger Entfernung hauen drei Krähen ihre Schnäbel in den Leichnam eines Tieres. Noah verjagt die Vögel, die unter empörtem Krächzen davonfliegen und sich auf der anderen Straßenseite wieder niederlassen. Im Schotter gestrandet liegt mit zum Himmel gedrehten Augen ein großer verunglückter Stör und schaut den vorüberziehenden Wolken nach.
Tête-à-la-Baleine
Joyce öffnet ein Auge. Der Wecker zeigt Viertel vor fünf. Sie zieht sich geräuschlos an, ohne Licht zu machen. Sie holt einen Seesack unter ihrem Bett hervor, nimmt ihn über die Schulter und verlässt das Zimmer auf Zehenspitzen. Im unteren Stockwerk mischt sich das Schnarchen ihres Onkels mit dem Surren des Kühlschranks. Draußen steigt ihr der Atem als weiße Wolke aus dem Mund. Im Westen geht der Mond gerade unter, und man ahnt noch das schwache Funkeln der letzten Sterne. Joyce setzt sich mit beherztem Schritt in Bewegung, ohne jedoch in Richtung der Nachbarhäuser zu schauen.
Einige Minuten später kommt sie an ihrer Schule vorbei.
Sie wirft einen unbeteiligten Blick in den Hof – orangefarbener Schotter im Licht der Quecksilberlampe – und stellt fest, dass sie nichts Besonderes mehr empfindet, weder Ekel noch Verachtung. Sie wundert sich darüber, wie schnell doch Vergangenheit und Vergessen hinter ihr die Spuren wegwischen. Zwölf Stunden zuvor war sie hinter diesem Zaun noch gefangen gewesen; jetzt erscheint ihr der Ort vollkommen fremd. Sogar der widerliche Maschendrahtzaun stört sie nicht mehr. Man muss dazu sagen, dass die Wirkung eines Zaunes stark davon abhängt, auf welcher Seite man sich befindet. Von dieser Seite aus erinnerte der Zaun nur noch an das harmlose Gradnetz einer Landkarte.
Sie beschleunigt den Schritt.
Im Alter von sechs Jahren schlich sich Joyce heimlich in das Arbeitszimmer ihres Vaters. Lautlos schloss sie die Tür hinter sich, bahnte sich einen Weg durch die Stapel Pêches et Océans Canada , die Schachteln mit Formularen, die Bojenkarten und zog einige lange Papierrollen aus dem Schrank. Sie streifte die Gummibänder ab und entrollte auf dem Boden Dutzende von Seekarten in den verschiedensten Maßstäben und Farben, die meisten übersät mit Notizen, Berechnungen und auf die Schnelle eingezeichneten Fischereizonen.
Joyce hatte eine besondere Vorliebe für die Karte 2472-B entwickelt, eine riesengroße Darstellung des Küstenstrichs der Basse-Côte-Nord im Maßstab 1:100.000, mittendrin das winzige Dorf Tête-à-la-Baleine. Sie hatte diese Karte schon so oft auseinandergerollt, dass sie an den Rändern pergamentfarben geworden war. Im Gegenlicht betrachtet wurde auf dem Blau des Meeres ein komplexer Archipel fettiger Finger sichtbar, durchzogen von Strömungen, Tiefenlinien, Tonnen, Landmarken, Leuchttürmen und Fahrrinnen.
In einer Ecke der Karte, nahe der Legende, war folgende Warnung zu lesen:
Die Lotung der Küstenregion zwischen Sept-Îles und Blanc-Sablon wurde nicht gemäß der heute gültigen Normen durchgeführt, es kann dort nicht kartographierte Felsen oder Untiefen geben.
Vorsicht ist geboten.
Die örtliche Geografie zeichnete sich tatsächlich
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