Dickner, Nicolas
Standortsignatur ein und eilt zu den Regalen.
Versteckt in einer dunklen Ecke der Abteilung B (Philosophie, Psychologie und Religion) blättert er in einem Buch, ohne eigentlich genau zu wissen, was er sucht. Er ist ohne jegliche Kenntnis von Religionen aufgewachsen – er könnte nicht einmal sagen, ob seine Mutter Animistin, Katholikin oder Anhängerin der Siebten-Tags-Adventisten ist. Ergebnis: In der Theologie kennt er sich ebenso gut aus wie in der kaukasischen Geschichte des 16. Jahrhunderts.
In dem Buch von Gustavo Gutiérrez ist von Indigenismus keine Rede. Dafür stößt Noah auf unerwartete Worte, die glänzen wie die Stacheln an einem Kaktus: Kampf gegen die Domination durch die Reichen, fortdauernde kulturelle Revolution, radikaler Einsatz, Überfluss, Ungerechtigkeit, Überwindung der aktuellen Gesellschaft, Guerilleros.
Noah schließt das Buch wieder, verwirrt wie noch nie zuvor. Sein Entschluss steht fest: Er muss sich mit Arizna einmal zwischen 21:00 Uhr und 8:00 Uhr treffen – mitten im Bermudadreieck.
Jututo
Arizna kommt zu spät, mit einer kostspieligen Flasche Rum unter dem Arm und sichtbar erfreut über die Aussicht, einem der berühmten Jututos beizuwohnen. Sie küsst Noah auf die Wange und dankt ihm noch einmal für die Einladung.
„Ich habe es satt, immer mit meinem Großvater zu Abend zu essen.“, erklärt sie mit einer Grimasse.
Mit dem ersten Glas Wein wird aus der perfekten Studentin eine furchterregende Polemikerin. Schneller als man braucht, um eine Garnele zu pulen, hat sie die Situation in der Hand. Sie fühlt sich in dem familiären Chaos augenblicklich wohl und leitet eine leidenschaftliche Diskussion über die politische Zukunft der Karibik. Die Gäste um den Tisch verschärfen den Ton, heben den Zeigefinger, bewerfen sich mit den Resten von Schalentieren.
Das Abendessen ist bereits recht hitzig, als sie, beim Öffnen der ersten Flasche Rum, einen Streit über das Wort Jututo lostritt. Dieser Begriff, der für diese häuslichen Treffen seit Jahren benutzt wurde, ohne dass sich jemand daran störte, wird plötzlich zum Zankapfel. Alles daran scheint strittig, angefangen von der richtigen Aussprache: Cousin Javier beteuert, dass man bei ihm im Dorf Fututo sagt, Cousin Miguel gibt vor, dass man es bei den Garifuna in Belize Bututo ausspricht, und Arizna erklärt, in den Andenländern sei vielmehr von Pututo die Rede.
Von phonetischen Feinheiten einmal abgesehen, tut man sich auch schwer, über die Art des Gegenstands selbst eine Einigung zu finden. Die meisten Gäste behaupten, dass ein J(F/P/B)ututo eine Trompete ist, die aus einer großen Muschel gefertigt wird (aus der Familie der Strombidae , wie Arizna ergänzt), aber Cousin Jorge hält hartnäckig daran fest, dass es sich um das Horn eines Rindes handelt, und Pedro setzt noch nach, dass einer seiner Nachbarn ganz normale Brugalflaschen benutzte, denen er den Boden wegschlug – ein Verfahren, das er auf der Stelle vorführen würde, wenn ihn nicht die gesamte Tischgemeinschaft schleunigst davon abgehalten hätte.
Bleibt die Frage – bemerkt Arizna in der offensichtlichen Absicht, die Schlachten zu schlagen, wenn sie am heißesten sind –, welcher Zusammenhang zwischen einem häuslichen Treffen unter Cousins und einer Trompete bestünde (ganz egal ob es sich dabei um Muschel, Horn oder Rumbuddel handelte). Cousine Gina gibt vor zu wissen, die besagte Trompete diente einst dazu, die Dorfgemeinschaft zu einem Treffen zusammenzurufen – daher die Metonymie – aber diese Information stößt keineswegs auf Einvernehmen, und bald werden die tausend und eine möglichen Verwendungen des Wortes Jututo debattiert, wobei jedes Argument auf ein großzügiges Glas Rum gestützt sein möchte.
Nach dem Essen schließlich setzt sich Arizna in die Küche ab, scheinbar unbeeindruckt von Musik, Tanz und den tropischen Cocktails, die im Wohnzimmer die Runde machen. Am Tisch mit vier Cousins und einer Flasche undurchsichtigen Inhalts wird über Politik diskutiert. Haken, Gerade, Schwinger – mit Leichtigkeit zerlegt sie die Argumente, widerspricht den komplexesten Analysen, behauptet, was niemand erwartet hätte, und beweist das Gegenteil. Gibt sich ein Cousin geschlagen, nimmt der nächste seinen Platz ein – so als wäre Arizna, allein gegen eine Vielzahl von Gegnern, die Herrscherin im Boxring zwischen den vier Ecken der Fischmustertischdecke.
„Na sag mal“, raunt Maelo Noah im Vorbeigehen zu. „Die hat aber Pfeffer, deine
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