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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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das aktuelle Weltgeschehen mit besonderem Schwerpunkt auf Südamerika und den Chiapas und macht ein paar Notizen auf ihrem kleinen Spiralblock. Um 8:30 Uhr konsultiert sie den Bibliothekskatalog und schreibt sich ihr Tagesprogramm in Form von Standortsignaturen heraus. Dann saust sie kreuz und quer durch die Bibliothek, von einer Abteilung zur anderen, mit einem schnell wachsenden Stapel Bücher unter dem Arm. Gegen 8:45 Uhr trifft sie mit ihrer Beute in der Abteilung V ein. Sie legt die Bücher in Stapeln auf den Tisch, setzt ihre Brille auf, wie man eine Taucherglocke überstülpt und taucht in ihren Lesestoff.
    Wenn Noah fünfzehn Minuten später auf der Bildfläche erscheint, ist von der Frau nur noch das Sprudeln der aufsteigenden Luftblasen an der Oberfläche zu sehen. Sie steht nur von ihrem Stuhl auf, um sich neue Bücher zu holen, sich zu strecken oder in der Cafeteria im Untergeschoss einen Linsensalat zu essen. Diesen Marathon setzt sie fort, bis sie um 20:45 Uhr der Schließungsgong hinausjagt. Daraufhin ist sie wie vom Erdboden verschluckt, scheinbar in Nichts aufgelöst und taucht in der wirklichen Welt erst am nächsten Morgen wieder zur Öffnung der Bibliothek auf.
    Die Zeit zwischen 21:00 Uhr und 8:00 Uhr liegt im Bermudadreieck.

    Die Tage vergehen, noch immer teilen sich Noah und die junge Frau den großen Mahagonitisch. Allmählich verschwimmen die Grenzen ihrer Gebiete. Ihre Bücher mischen sich zunehmend, und es entsteht eine stillschweigende Vertrautheit, aus Schweigen, Geraschel und verstohlenen Blicken – derart, dass Noah es nach einer Woche ganz normal findet, sie zu fragen:
    „Und woran arbeitest du?“
    Die Frau sieht von ihrem Buch auf und schaut sich blinzelnd um, als würde sie die erste Pause seit sechs Monaten einlegen.
    „An den Rücksiedlungen nördlich des Polarkreises.“
    Fünf Akzente überlagern sich in diesen sechs Worten: Der stolzgeschwellte Ton der Bourgeoisie von Caracas, die Montréaler Diphthongisierung, die Hektik von Madrid, die nasale Färbung New Yorks und einige Spuren eines nicht lange zurückliegenden Aufenthalts in Chiapas. Wo aber kommt sie her?!
    „Die Rücksiedlungen?“, fragt Noah in der Absicht, diesen unbestimmbaren Akzent noch einmal zu hören.
    Sie reckt sich und gähnt lange.
    „Kennst du Inukjuak?“
    „Das ist ein Inuitdorf in der Hudson Bay, richtig?“
    „Genau. 1953 hat die kanadische Regierung mehrere Familien aus Inukjuak in zwei künstliche Dörfer umgesiedelt: Resolute und Grise Fjord. Das liegt ungefähr auf 75° nördlicher Breite. So hoch im Norden, dass im Dezember die Sonne nicht mehr aufgeht.
    „Warum haben sie sie umgesiedelt?“
    „Wegen einer Hungersnot. Zumindest ist das die offizielle Version. Letztes Jahr hat die Makivik Corporation Beschwerde bei der Königlichen Kommission über indigene Völker eingelegt. In deren Augen war die Hungersnot ein Vorwand. Die Regierung wollte einfach ihre Hoheitsgewalt im Hohen Norden untermauern . . . Was ist? Warum lachst du?“
    „Nur so.“
    „Hast du eine Meinung dazu?“
    „Klingt wie die Umkehrung der Deportation aus Akadien.“
    „Komische Meinung.“
    „Und du. Was denkst du darüber?“
    „Dass es kompliziert ist.“
    „Gab es eine Entscheidung der Königlichen Kommission?“
    „Zu Gunsten der Inuit, aber das will nichts heißen. Da gab es im Hintergrund viel politisches Geschiebe. Man hätte so einige Königliche Kommissionen einberufen können, für Dinge, die im Süden passiert sind. Die Enteignungen in Mirabel, das Fehlen von Strom- und Wasserversorgung in den abgelegenen Regionen, die Schließung von Schefferville . . . Aber da hatten es die Weißen auf etwas anderes abgesehen.“
    „Auf was denn?“
    „Die Stammesgebiete.“
    Noah verschränkt die Arme und schaut skeptisch.
    „Warte mal . . . Vor Ankunft der Weißen zogen die Inuit im Rhythmus der Jahreszeiten den Wildherden hinterher. Die heutigen Dörfer sind alle so ziemlich um die Handelsstationen der Hudson Bay Company herum entstanden. Daher waren die Familien zum Zeitpunkt der Umsiedlung erst in der zweiten oder dritten Generation sesshaft. Kann man da überhaupt von Stammesgebieten sprechen, wenn die Art und Weise, wie diese Gebiete bewohnt werden, noch so frisch ist?“
    „Natürlich! Das Gebiet ist doch nicht etwas, das sich in Quadratkilometern abmessen lässt. Da gehören auch die Ahnen dazu, die Vorgeschichte, die mündlichen Überlieferungen, die Schlittenpisten für Skidoos, der

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