Dickner, Nicolas
Familienzusammenhalt, die Seehundsjagd und der Lachsfang, die Flechten, die Berufungsverfahren im Prozess gegen Hydro-Québec . . . Das Gebiet ist in erster Linie die Identität.“
Noah nickt, ohne etwas zu sagen. Die Frau reibt sich die Augen und wechselt plötzlich das Thema.
„Und du, was studierst du?“
„Archäologie.“
„Und da interessierst du dich für Indianer?“
„Eigentlich interessiere ich mich für Müll, aber . . .“
„Müll?“, fragt sie erstaunt. „Warum denn Müll?“
„Stammesgebiet.“
„Ich verstehe den Zusammenhang nicht.“
„Normalerweise interessieren sich die Archäologen nicht besonders für Nomaden. Je mehr eine Bevölkerung unterwegs ist, umso weniger Spuren hinterlässt sie. Wir untersuchen lieber die Kulturen, die sich irgendwo ansiedeln, Städte bauen und viel Abfall produzieren. Nichts ist interessanter als die Abfälle. Sie teilen einem mehr mit als die Kunstwerke, Gebäude und Denkmäler. Die Abfälle zeigen, was die anderen alle verstecken wollen.“
„Und was hat das mit Stammesgebieten zu tun?“
„Die Inuit hatten vor der Ankunft der Hudson Bay Company keine Vorstellung davon, was eine Müllkippe ist.“
Die Frau nickt ihrerseits und mustert Noah mit einem komplizenhaften Lächeln.
Sie heißt Arizna Burgos Mendez – aber das ist auch schon fast alles, was Noah ihr entlocken kann. Denn auch wenn es ein Leichtes ist, mit ihr stundenlang über die großen indianischen Themen zu debattieren, so lässt sie doch jede persönliche Frage ins Leere laufen. Diese Reserviertheit stachelt Noahs Neugierde umso mehr an, so dass er alle Tricks und Kniffe zum Einsatz bringt, die ein Sioux-Archäologe so aufbieten kann. Mittels harmloser Plaudereien und einiger Fangfragen gelingt es ihm, ein lückenhaftes Phantombild zu erstellen.
Arizna ist in Caracas geboren. Sie wurde von ihrem Großvater aufgezogen, der momentan einen unbefristeten (aber wichtigen) Posten im venezolanischen Konsulat in Montréal bekleidet. Sie hat Caracas sehr jung verlassen und lebte nacheinander in New York, Paris, Brüssel, Madrid und Montréal, je nachdem, wohin ihr Großvater als nächstes versetzt wurde. Nach einigen Jahren in Montréal kehrte sie nach Venezuela zurück und begann dort ein Studium am Instituto Indigenista Autónomo, einer kleinen, wenig bekannten Universität in Caracas. Sie interessiert sich nur für ihr Studium und ihre indianische Forschung, redet gerne über die Zapatisten, kratzt sich oft an der rechten Augenbraue, trinkt ihren Kaffee gerne mit viel Zucker und scheint sich ausschließlich von Linsensalat zu ernähren.
Begierig herauszufinden, was es mit dem rätselhaften Instituto Indigenista Autónomo auf sich hat, stellt Noah Nachforschungen an. Er durchforstet die Kataloge der Bibliothek, wühlt sich durchs Internet, fragt Thomas Saint-Laurent – vergeblich. Nirgends findet das geheimnisvolle Instituto Erwähnung. Noah war kurz davor, es für eine Scheinuniversität zu halten. Eines Morgens beschließt er, die Frage offen anzugehen:
F: Du schreibst also eine Doktorarbeit?
A: Nein, nicht wirklich, an meiner Uni kann man keine Abschlüsse machen.
F: Was für einen Studiengang machst du denn genau?
A: Es gibt keine Studiengänge im herkömmlichen Sinne. Die Studenten belegen ein Studium Generale von unterschiedlicher Länge. Wenn sie das durchlaufen haben, schließen sie sich einer Forschungsgruppe an. Ich bin zum Beispiel in der G.E.T., der Grupo de Estudio Tortuga – aber wir sagen nur die Tortuga .
F: Und was genau ist euer Forschungsgebiet?
A: Die Anthropologie der Befreiung.
F: Das heißt?
Eine zufriedenstellende A. auf diese letzte F. blieb aus. Sichtlich verunsichert stammelte Arizna ein paar Sätze von befremdlicher Unklarheit zum Thema Indigenismus, zur innenpolitischen Lage in Venezuela und einem gewissen Gustavo Gutiérrez – bevor sie letztlich vorgab, das Konzept ließe sich nur schwerlich in eine andere Sprache übersetzen.
In der festen Überzeugung, dass die Antwort auch auf Spanisch nicht klarer ausgefallen wäre, verzichtet Noah darauf, um eine Übersetzung zu bitten. Er geht lieber hinüber zu den Rechnern zur Bibliotheksrecherche, wo er die Begriffe „Anthropologie + Befreiung“ eintippt. Kein Ergebnis. Er kratzt sich am Kinn und versucht es anders: „Gutiérrez, Gustavo“. Der Computer spuckt augenblicklich fünfzehn Titel aus, von denen Noah insbesondere Die Theologie der Befreiung ins Auge fällt. Er prägt sich die
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