Dickner, Nicolas
betreiben.“
„Mir war sowieso todlangweilig. Ich gehe nicht gerne angeln . . . Und du, was treibst du hier, mitten im Juli?“
„Die haben hier die beste Klimaanlage der Stadt.“
Er überlässt Thomas Saint-Laurent seinen Studien und geht hinauf in den fünften Stock.
Als Lehrling der Archäologie müsste Noah eigentlich in Abteilung EF (Amerikanische Geschichte) arbeiten, beziehungsweise in Abteilung G (Geografie und Anthropologie), aber er bevorzugt die ruhige Atmosphäre in der Abteilung V (Meereswissenschaften, Reiseberichte und Seeschlangen). Auch in den Stürmen kurz vor Semesterende bleibt dieser vergessene Winkel im obersten Stockwerk einer der am wenigsten überlaufenen Orte der Bibliothek. In den Semesterferien betritt kaum noch jemand diesen Bereich – nicht einmal ein Bibliothekar oder Hausmeister – und so kann man sich hier wochenlang aufhalten, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Keine Gaffer, Gauner oder Schnüffler: Man kann ungezwungen an die Decke starren und vor sich hinträumen, kleine Gedichte schreiben, auf dem Tisch ein Nickerchen machen, irgendwas irgendwie lesen – und das alles auch mit freiem Oberkörper.
Einen großen Mahagonitisch in der Mitte des Lesesaals hatte Noah zu seinem heimatlichen Hafen erkoren. Seit Monaten schon ließ er darauf seine Bücher, Papiere, Stifte und seine Brille liegen – als handelte es sich um ein Möbelstück, das für seinen alleinigen Gebrauch bestimmt war.
An diesem Morgen jedoch entdeckt Noah, völlig unerwartet, dass eine Studentin am selben Ort vor Anker gegangen ist.
Vor lauter Schreck steht er wie angewurzelt da. Er schaut sich flüchtig um: Der Lesesaal ist menschenleer, eine wahrhaftige Sahara aus unbesetzten Tischen. Warum hat sich diese Frau ausgerechnet hier und nicht woanders hingesetzt? Noah spürt plötzliche Instinkte von territorialer Inanspruchnahme in sich aufsteigen – ein sonderbares Gefühl, wenn man mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 60 km/h aufgewachsen ist.
Warum hängt er so an diesem Tisch?
Wenn jetzt mit einem Mal Sarah auftauchte – wie der Geist aus dem silbernen Wohnwagen –, würde sie ihm ganz einfach raten, mit der Frau in Kohabitation zu leben, oder aber seine Bücher zusammenzupacken und eine andere Ecke der Bibliothek zu kolonisieren. Schließlich seien noch vier Stockwerke frei, die Treppenhäuser, Wandschränke und Toiletten nicht mitgerechnet. Aber Sarah ist nicht da, und Noah tritt unsicher einen Schritt näher und fragt sich, was er am besten machen soll. Sich hinsetzen? Das Feld räumen? So tun, als ob nichts wäre? Den verschüchterten Intellektuellen spielen? Anspruch auf sein Gebiet erheben?
Er setzt sich.
Keine Reaktion, der Tisch schwimmt in einem Meer aus Schweigen. Noah rutscht auf seinem Stuhl hin und her, hustet. Die Frau blickt auf, grüßt ihn mit einem kurzen Lächeln und verliert sich sofort wieder in ihrer Lektüre.
Na dann , denkt sich Noah nüchtern.
Während er vorgibt, seine Zettel zu ordnen, nimmt er seine neue Nachbarin genauer unter die Lupe. Sie hat lange schwarze Haare, einen Anflug von Mandelaugen und eine kleine Lesebrille. Die perfekte Studentin. Um sich herum hat sie mit einigen dicken Wälzern ihr Territorium abgesteckt: Kanadische Hoheitsgewalt und der Hohe Norden, The High Arctic Relocation, Die Zivilisation der Inuit in der internationalen Politik .
Fest steht, dass sich wirklich niemand auf dieser Etage für Seeschlangen interessiert.
Der Tag vergeht, als ob nichts wäre. Noah liest – oder tut zumindest so, ohne sein Augenmerk von den olivfarbenen Unterarmen der Frau losreißen zu können, ihren kantigen Handgelenken, ihrer rastlosen Hand, mit der sie etwas, das an spiegelverkehrtes Altitalienisch erinnert, in ein kleines Schreibheft kritzelt. „Eine Linkshänderin!“, frohlockt er.
Kurz vor Mittag verlässt die Unbekannte ihren Platz, ohne von ihren Unterlagen etwas wegzuräumen. Noah sieht sie hinter den Regalen verschwinden, zögert kurz und nimmt sich ihr Schreibheft. Zu seiner großen Überraschung ist alles darin auf Spanisch geschrieben. Noah kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
Eine spanischsprachige Studentin forscht über den Hohen Norden in der Abteilung für Meereswissenschaften?
Warum auch nicht.
Von nun an taucht die Frau mit der Regelmäßigkeit eines Himmelskörpers jeden Morgen wieder auf.
Schon um 8 Uhr tritt sie durch die Glastür der Bibliothek und setzt sich an einen der Internet-Plätze. Sie informiert sich über
Weitere Kostenlose Bücher