Dickner, Nicolas
gehabt.“
„Wovon handelt das?“
„Von Piraten“, sagt er kurz angebunden und lässt sich neben Arizna auf die Matratze fallen. „Das Übliche. Die Spanier klauen das Gold von den Indianern, die Engländer klauen das Gold von den Spaniern. Die Holländer klauen das Gold von den Engländern.“
„Und wie geht es aus?“
„Die Holländer gehen mit ihrem Schiff unter und das Gold liegt für alle Ewigkeit auf dem Meeresgrund.“
Arizna blättert neugierig durch das Buch. Und Noah sieht zum ersten Mal, dass sie sich für auch etwas anderes als den Indian Act, die durchnummerierten Verträge, die Inuit oder die Oka-Krise interessiert.
„Verwandtes Fachgebiet“, erklärt sie. „Ich möchte dich nur darauf hinweisen, dass deine Geschichte mit dem Gold der Indianer beginnt.“
„Damit erschöpft sich der Beitrag der Indianer aber auch schon: Sie sind noch nie große Seefahrer gewesen.“
„Falsch! Hast du Moby Dick gelesen?“
„Da habe ich eine Bildungslücke.“
„Sonst würdest du wissen, dass im 19. Jahrhundert beim Walfang der Erfolg einer Expedition von der Geschicklichkeit der Harpuniers abhing, die man anheuerte. Und die besten Harpuniers waren die Ureinwohner. In Moby Dick waren es drei: ein Indianer, ein Ozeanier und ein Afrikaner. Sie waren die Besatzungsmitglieder mit dem höchsten Ansehen und sie bekamen den größten Anteil am Gewinn. Nach dem Kapitän, natürlich . . .“
Sie seufzt und öffnet jetzt auch ein paar Knöpfe an ihrer Bluse, während sie sich mit dem Buch ohne Gesicht Luft zufächelt. Noah fragt sich, mit wievielen offenen Knöpfen eine Bluse noch als geschlossener Raum gelten kann.
„ Moby Dick wurde 1851 geschrieben. Im goldenen Zeitalter des Walfischtrans. Als dann die fossilen Brennstoffe auftauchten, wurde die Walfangindustrie mechanisiert. Heutzutage würden die Harpuniers von der Pequod unterbezahlt auf Containerschiffen arbeiten, die unter der Flagge der Bahamas oder Liberias fahren.“
„Das erinnert schon sehr an eine Piratengeschichte.“
„Stimmt. Kann ich mir dein Buch ausleihen?“
Noah bejaht dies mit einer Handbewegung.
Von der anderen Seite der Wand wird das dumpfe Stampfen der Bachata leiser und erstirbt. Man hört nur noch das leise Scheppern von Geschirr und einige spärliche Diskussionen. Arizna legt das Buch ohne Gesicht auf den Fußboden, reckt und streckt sich und schaut auf ihre Uhr.
„Da haben wir’s“, sagt sie mit einer Stimme voller Zweideutigkeit. „Jetzt habe ich die letzte Metro verpasst.“
Sintflut
Montag dritter September, halb acht Uhr morgens, zum ersten Mal seit Monaten regnet es wieder. Die ausgetrocknete Erde weigert sich, alles zu trinken, und die Gullys speien das Überschüssige in großen Schwällen wieder aus.
Noah bekommt von der meteorologischen Situation nichts mit: Er schwebt über einem Kornfeld, irgendwo in Saskatchewan. Es ist warm, die leichte Brise zeichnet Wellen in die Gerste. Nach einer Weile sinkt er tiefer, Richtung Boden, sinkt ein zwischen den goldenen Ähren und erwacht in seinem Bett.
Er tastet den freien Platz ab, auf der Backbordseite der Matratze, hebt den Kopf aus den Kissen: Ariznas Kleider sind weg und auch Arizna ist verschwunden. Nichts Überraschendes. Seitdem sie regelmäßiger Gast beim Jututo geworden ist, hat Noah es kein einziges Mal geschafft, neben ihr aufzuwachen.
Er entschließt sich, aus dem Bett zu steigen und nimmt, als er den Fuß auf den Boden setzt, mit Erstaunen wahr, dass zehn Zentimeter bräunliches Wasser den Boden bedecken. Er reibt sich die Augen, schüttelt den Kopf – aber die kleinen zarten Wellen schlagen ihm immer noch gegen die Knöchel.
Benommen watet er durch die Wohnung. Stinte ziehen durch das Wohnzimmer und träumen vom Ozean, während mehrere Gegenstände schlaff schaukelnd durch den Flur treiben: drei Bände der Encyclopédie Cousteau , eine Ausgabe der Stimme des Fischhandels, ein Paar Schuhe.
Er findet Maelo im Badezimmer, wo dieser mithilfe einer 250-ml-Tasse Wasser in die Toilette schöpft.
„Drainage dicht?“, fragt Noah mit weltgewandtem Tonfall.
„Drainage dicht“, antwortet Maelo gefasst.
„Und der Vermieter?“
„Wie immer nicht da.“
Noah sieht Maelo eine Minute lang zu und fragt sich, ob das Unterfangen wirklich von großem Nutzen ist. Er geht aus dem Badezimmer, hebt halbherzig einige Gegenstände über die Wasserlinie, entscheidet dann aber, dass es bis zum Ende der Sintflut keinen Sinn hat, etwas zu tun. Er schlüpft in
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