Dickner, Nicolas
Freundin! Hast du die in einem Kung-Fu-Club aufgegabelt?“
„Nein“, erwidert Noah lächelnd. „Im fünften Stock der Bibliothek.“
Gegen ein Uhr morgens entzieht sich Arizna einer zähen Diskussion über die Organisation Amerikanischer Staaten, schwankt bis ins Wohnzimmer und legt Noah die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme ist noch rege, aber ihre Augen wirken müde.
„Alles okay?“, schreit sie gegen die Musik an.
Er nickt bejahend und stellt ihr dieselbe Frage. In erfindungsreicher Taubstummensprache teilt sie ihm mit, dass sie ein bisschen getrunken hat und dass die atmosphärische Zusammensetzung – Schweiß, Zigarrenqualm und mehrere Dezibel billigen Bachatas – bei ihr ein gewisses Unwohlsein hervorruft.
Noah führt sie in sein Zimmer und schließt hinter ihnen beiden die Tür.
Das Zimmer, bei dem Noah vor vier Jahren noch Befürchtungen hatte, es niemals ausfüllen zu können, war mittlerweile mit mehr Dingen vollgestopft als der Verkaufsstand eines Trödlers. Oft denkt er darüber nach, alles auf den Müll zu befördern, um das wunderbare Schwindelgefühl der ersten Tage wiederzufinden, aber jedes Mal, wenn er das Wagnis unternimmt, stößt er sich an den Gesetzen der Entropie. Die Materie leistet Widerstand, kämpft gegen die Leere. Jede Kleinigkeit scheint plötzlich eine lebenswichtige Funktion zu haben – und wagt man es trotzdem, sie wegzuwerfen, kommt an der freigewordenen Stelle umgehend eine zweite Kleinigkeit gleichen Umfangs zum Vorschein.
Noah kann diese Fülle nicht ansehen, ohne an seine Mutter zu denken. Er stellt sie sich vor, mitten in Saskatchewan, allein auf weiter Flur, umgeben von einer Prärie noch weiter als der Pazifik. Die drei Unzen Unordnung, die er aus seinem Zimmer herausholen könnte, erscheinen im Vergleich zu diesen großen Räumen lächerlich klein – aber genau diese drei Unzen sind es, die in diesem Moment fehlen, um sich irgendwo hinsetzen zu können.
Arizna blickt umher. Der einzige Stuhl dient als Ablage für einen Berg Bücher, den eine halbleere Tasse Kaffee und ein lauthals brummender Ventilator bezwungen haben. Sie lässt sich auf die Matratze fallen, zwischen einen Stapel National Geographic und ein altes Laptop. Sie streift ihre Sandalen ab, löst ihren Gürtel und klopft sich auf den Bauch.
„Oh je, alles dreht sich“, stammelt sie. „Wie hieß diese Mischung nochmal?“
„Mamajuana.“
„Die Wurzeln, die da in der Flasche schwimmen, sind die halluzinogen?“, fragt sie besorgt.
„Nein, die machen nur, dass der billige Rum etwas nach Urwald schmeckt. Maelo meint, das wäre ein altes Rezept der Taino.“
Er krempelt die Ärmel hoch und macht sich daran, die Matratze freizuräumen. Er legt die National Geographic oben auf den Computer und versucht, den ganzen Packen auf einer Ecke des Schreibtischs abzustellen. Am anderen Ende des Möbels drohen mehrere Papierstapel einzustürzen. Mit einem Satz nach vorne kann Noah den Papierkram gerade noch auffangen. Er schaut sich um, auf der Suche nach ein paar freien Kubikzentimetern, aber an Kubikzentimetern herrscht momentan leider ein furchtbarer Mangel. Mit einem Tritt öffnet er die Tür des Kleiderschrankes und entdeckt zwischen zwei Pappkartons eine winzige freie Stelle auf der obersten Ablage. Er versucht, einen der beiden Kartons ganz bis ans Ende der Ablageplatte zu schieben. Der Karton ächzt, hält dem Druck aber stand.
Noah spürt, wie ihm die Situation an allen Fronten entgleitet. Der Karton über seinem Kopf weigert sich, von seinem Platz zu weichen. Der Stapel Papier unter seinem Arm gerät immer mehr ins Rutschen. Hinter seinem Rücken kämpft Arizna mit dem Reißverschluss ihrer Jeans und grummelt dabei ein paar unverständliche Dinge über indianische Techniken. Er hat das Gefühl, Gefangener mehrerer geschlossener konzentrischer Räume zu sein: einem eingeklemmten Pappkarton in einem eingekeilten Schrank in einem eingequetschten Zimmer in einer Wohnung voller Dominikaner, die Rumflaschen leeren.
Plötzlich ist ein lautes Krachen zu hören und die Kiste entleert sich auf seinen Schädel.
„Fall erledigt“, murmelt Noah und wischt sich den Staub von den Schultern.
Arizna prustet vor Lachen, hinter vor den Mund gehaltener Hand. Der Inhalt der Kiste hat sich bis vor ihre Füße verteilt.
„Was ist das denn?“, fragt sie und greift mit den Zehen nach einem der Bücher.
„Zeig mal? Ach das . Das Buch ohne Gesicht. Das habe ich seit Jahren nicht mehr in der Hand
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