Dickner, Nicolas
Aufenthalt auf der Stevenson-Insel keine Spur mehr zu sehen sein.
„Ja“, stöhnt Tom Saint-Laurent, „das archäologische Graben ist nicht immer sehr romantisch. Wenn ich daran denke, dass ich jetzt gerade in den Laurentiden Forellen angeln könnte . . .“
„Ich erinnere mich, dass du letzten Sommer deinen Angelurlaub abgebrochen hast, um die Altpapierbehälter in der Bibliothek zu durchstöbern.“
„Da hast du recht. Das war nur ein wohlfeiles Bild zum Ausdruck von sommerlicher Gelassenheit. Ein See, Forellen, Mücken.“
„Fährst du denn nie weg?“
„Ich reise nicht gern allein.“
„Ich dachte, du bist verheiratet“, wundert sich Noah.
„Geschieden, natürlich. Nur Geschiedene und verrückte Singles sind dazu bereit, auf einer einsamen Insel der Basse-Côte-Nord in der Erde zu wühlen. Und du, hast du keine Freundin?“
„Keine Freundin. Auch keine Familie. Meine Mutter lebt in einem Wohnwagen und bleibt nie länger als zwei Wochen an einem Ort. Jetzt um die Zeit müsste sie in Banff sein. Oder in Whitehorse.“
„Keine Geschwister?“
„Nicht, dass ich wüsste.“
„Und dein Vater?“
„Mein Vater? Schlimmer als meine Mutter. Er hat auf Frachtschiffen gearbeitet. Blieb nirgends lange. Das letzte, was ich weiß, ist, dass er in Alaska lebte. Ich glaube, er ist auf einer kleinen Insel der Aleuten sesshaft geworden.“
„Komischer Ort, um sesshaft zu werden.“
„Auch nicht schlimmer als die Stevenson-Insel.“
Es folgt ein kurzes Schweigen, das vom Summen der Mücken ausgefüllt wird. Die zwei Archäologen sind nachdenklich. Nach einer Weile trinkt Thomas Saint-Laurent einen kräftigen Schluck Scotch und schiebt Noah den Flachmann hin.
„Ich weiß, woran du denkst. Du wolltest deine Magisterarbeit über Müllhalden schreiben, und jetzt bereust du, deine Meinung geändert zu haben.“
„Ich habe meine Meinung nicht geändert. Du hast dich geweigert, mich zu betreuen.“
„Stimmt“, gibt er mit zerknirschter Miene zu. „Ich wollte dir eine Enttäuschung ersparen. Ich hätte dich dein Projekt vorbereiten lassen können. Das Zulassungskomitee hätte es abgelehnt und du hättest drei Monate umsonst gearbeitet.“
„Schon okay“, antworte Noah behutsam und nimmt noch einen Schluck. „Ich mache dir keine Vorwürfe.“
„Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Auch ich habe den Eindruck, am falschen Ort zu sein. Mir ist hier fast genauso langweilig wie im Angelurlaub. Ich würde meine Zeit lieber auf der Müllhalde Miron verbringen. Das ist vielleicht ein Spaß! Hast du schon mal eine Ausgrabegenehmigung für eine Mülldeponie beantragt? Ein regelrechtes Zirkeltraining. Die Beamten misstrauen den Archäologen. Sie haben die Schatzgräber lieber.
„Die Schatzgräber?“
„Die Firmen, die sich um den Luxusmüll kümmern. Die meisten zerlegen die alten Computer, um die Metalle zurückzugewinnen. Sie nennen das Abfallverwaltung.“
Er seufzt, trinkt einen kleinen Schluck Scotch und wirft Noah den Flachmann zu.
„In Wirklichkeit steckt die Wiederverwertung der Computer in einer Sackgasse. Eine Tonne Platinen bringt ein paar Unzen Gold. Um damit einen Gewinn zu machen, braucht man also große Mengen an Rohstoffen. Da muss man Platinen, Prozessoren, Kabel, Festplatten, Gehäuse voneinander trennen. Und du hast Tonnen von Giftmüll am Bein. Den Prozess kann man nur schwer rentabel machen. Zu viele Arbeitsgänge, zu viel gefährliche Rückstände, um die man sich kümmern muss. Also drückt man beide Augen zu bei der Basler Konvention und exportiert den Elektromüll nach Asien.
„Was ist das, die Basler Konvention?“
„Warst du nicht in meinem Seminar Archäologie und internationale Politik ?“
„Ist schon etwas her . . .“
„Die Basler Konvention regelt den Transport und die Entsorgung von Abfällen. Theoretisch hindert sie die Industrieländer daran, ihren Müll in die Dritte Welt zu exportieren. Das Abkommen wurde 1985 auf den Weg gebracht, einige Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer. Es lag damals in der Luft: Sobald der eiserne Vorhang gefallen war, fing Westeuropa an, seinen überschüssigen Müll nach Polen, Bulgarien und in die Ukraine zu exportieren.“
„Ich kann nicht glauben, dass Müll exportiert wird!“
„Die Deponien platzen aus allen Nähten. Kennst du Fresh Kills?“
„Das ist die Müllhalde von New York, richtig?“
„Die Haupt deponie von New York. Zwölf Quadratkilometer groß, ein jährliches Wachstum von mehr als vier Millionen Tonnen
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