Dickner, Nicolas
lieber duschen und ab zur Uni.
Thomas Saint-Laurent gibt gerade sein erstes Seminar im Trimester (AR-10495 – Aktivismus und Archäologie der Gegenwart ), und Noah befindet sich alleine im Büro, im Kampf mit einem Antrag für Forschungsgelder.
Alles ist still im Raum, man hört nur das Surren des Computers und das des Mumienschranks. Noah blickt auf den Bildschirm, ohne sich dazu durchringen zu können, die Hände auf die Tastatur zu legen. Von Zeit zu Zeit riecht er an der Innenseite seines Handgelenks. Die Seife hat den harzigen Geruch der Stevenson-Insel nicht unterkriegen können.
Er betrachtet die vier Wände des Büros auf der Suche nach einem Vorwand, diesen Ort verlassen zu können. Auf einmal hat er Lust auf einen starken Kaffee.
In der kleinen Küche des Forschungszentrums läuft ein winziger Schwarzweißfernseher mit stummgestelltem Ton. Während Noah in seinem Kaffee rührt, entdeckt er die Vorteile eines revolutionären Einmalrasierers mit Aloe Vera, einer Babywindel mit eingebautem Hydrometer und eines Müllsacks aus dem Raumzeitalter. Die Kurznachrichten von 16:00 Uhr unterbrechen die Werbung. Er will gerade wieder in sein Büro zurückkehren – als er plötzlich stehenbleibt.
Der Bildschirm wird in Gänze von Thomas Saint-Laurents Gesicht in Nahaufnahme ausgefüllt.
Noah dreht den Ton bis zum Anschlag auf:
„. . . Demonstration an der Zufahrt zur Abraumhalde Miron in Ville Saint-Michel. Seit fast einer Stunde hindern circa zwanzig Demonstranten die Arbeiter am Zugang zum Gelände . . . “
Über den Bildschirm erstreckt sich eine lange Schlange Lastkraftwagen. Vor einem Hintergrund aus Möwen fuchteln Thomas Saint-Laurent und seine Studentenbande mit Schildern und Spruchbändern, die sie offensichtlich im Praxisteil des Seminars gebastelt haben. Die Kamera fängt einige Slogans ein: „Rettet den Müll“, „Abfall = Kulturerbe“, „Müllverbrennung: NEIN!“.
Noah fragt sich, ob das Verfassen der Slogans am Ende des Trimesters mit in die Bewertung einfließen wird.
„. . . ist mittlerweile eine Gruppe von Umweltaktivisten eingetroffen, die Verhandlungen mit den ersten Demonstranten aufgenommen haben . . . “
Voller Begeisterung und wild gestikulierend erklärt Thomas Saint-Laurent einem untersetzten Umweltschützer, der mit einem schweren Schild bewaffnet ist, die Feinheiten seines Seminarplans. Das Treffen zwischen den Demonstranten setzt sich als Schlagabtausch mit ihren Schildern fort. Chaos macht sich breit. Die Kamera zeigt drei Müllmänner in Nahaufnahme, die lässig an ihre Fahrzeuge gelehnt eine Zigarette rauchen, während sie dem Getümmel zusehen.
„. . . die Einsatzkräfte der Montréaler Polizei griffen wenig später ein und nahmen neun Personen vorläufig fest.“
Die dreißig rasanten Sekunden des Fernsehberichts enden damit, dass ein heldenhafter Thomas Saint-Laurent mit geschwollenem Auge und blutiger Nase von einem Polizistenduo mit 190 Kilo Gesamtgewicht ergriffen und ohne viel Federlesen in einen Streifenwagen gepackt wird, ein Schreckensbild, umgehend gefolgt von Werbung für Analgetika.
Noah kommt mit einem Kasten Bier bewaffnet zu Hause an, im Heiligen Krieg gegen das gesamte Abendland. Mit einem kräftigen Tritt lässt er die Tür auffliegen, macht sich in der Diele stehend ein Bier auf und möchte gerade, ohne es für nötig zu halten, sich seines Mantels zu entledigen, den ersten Schluck nehmen, als ihn das Klingeln des Telefons in seinem Elan bremst. Er hebt ab und bellt das mürrische ja?! eines Mongolenkriegers.
Ein langes, erstauntes Schweigen ist die Antwort auf diesen abrupten Auftakt.
„Noah?“, fragt Arizna mit unsicherer Stimme.
Noah fühlt, wie sich alle Muskeln seines Körpers der Reihe nach anspannen, vom unteren Wadenbein bis zum Hinterhauptmuskel. Die Wirbelsäule versteift sich. Die Finger krampfen sich um das Telefon, entlocken dem Plastik ein gequältes Knacken. Sein Mund steht sperrangelweit auf – ohne dass ein Lufthauch herauskommt.
„Wir haben uns lange nicht gesehen!“, fährt sie in übertrieben lässigem Tonfall fort.
„Ein Jahr“, antwortet Noah mit einer Stimme aus einer anderen Welt.
Seine rechte Hand beginnt zu zittern. Das Beben steigt ihm bis in die Schulter und wandert dann hinunter bis in die Knie. Seine Zähne schlagen aufeinander, seine Haut sträubt sich. Jetzt schüttelt sich sein ganzer Körper wie ein altes klappriges Auto auf einer holprigen Gefällestrecke. Er versucht, sich wieder zu fangen.
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