Dickner, Nicolas
diese felsige, eisige Insel im Vergleich zur Abteilung V in der Bibliothek wirklich eine Verbesserung darstellt.
Er rückt sich die Mütze zurecht und kehrt zurück zu den archäologischen Ausgrabungsanlagen.
Trotz dieser pompösen Bezeichnung beschränken sich die Anlagen auf vier alte Zelte aus gelbem Nylon, die kreuz und quer in der Gegend herumstehen, ein großes Sieb, das zwischen vier abgeästeten Kiefern hängt, mehrere Dutzend Plastikbehälter in verschiedenen Größen, eine Latrine, die aus einer alten Militärplane und dem Dreifuß eines Theodolits zusammengeschustert wurde. Das Ganze wird überschattet von der massigen Gestalt des Bunkers. Gleich dahinter befindet sich die Hauptausgrabungsstelle, in der Howard und Édouard arbeiten.
Wenn sie einander nicht gerade die Thermoskanne mit Kaffee streitig machen, sind die beiden schrägen Vögel damit beschäftigt, eine ehemalige Inuit-Grabstätte freizulegen, einen Kreis aus Feldsteinen, in dessen Mitte ein verwestes Skelett in angedeuteter Embryohaltung liegt. Im Rhythmus von unzähligen kleinen Pinselstrichen kommen die Knochen Millimeter für Millimeter aus dem Erdboden hervor. Tausende Jahre zuvor hatte sich ein alter Nomade in den Kreis aus Steinen gelegt, um dort seine endgültige Sesshaftwerdung anzutreten. Die Seele und den C 14-Kohlenstoff hat der Wind davongetragen, die Knochen aber sind geblieben.
Noah geht ruhigen Schritts um den Bunker herum und steuert in Richtung der zweiten Ausgrabungsstelle, die ihm persönlich zugeteilt ist. Es handelt sich um eine Art prähistorischen Campingplatz, bei dem die Herausforderung darin besteht, anhand winziger Abfallpartikel, die in der Landschaft verstreut liegen, die Identität und die Lebensweise der urzeitlichen Camper zu rekonstruieren. Diese Aufgabe ist wunderbar komplex, denn wenn man die Sesshaften dank ihrer fettigen Finger aufspüren kann, mit denen sie die Geschichte beflecken, so gibt es bei den Nomaden nur wenig Greifbares, an dem ihre weitentfernte Präsenz festzumachen ist: eine Harpunenspitze aus Seehundsknochen, angefressen vom sauren Boden, Holzkohlespuren, Muschelschalen, die zwischen den Kieselsteinen verstreut liegen.
Die Stevenson-Insel wurde im Lauf der Jahrhunderte reichlich mit solchen Zeugnissen ausgestattet. Wenn man gewissenhaft buddelt, kann man die zarten Spuren vorzeitlicher Eisfischer, der Seehundjäger aus Dorset, bärtiger Skandinavier, der Inuit aus Thule, baskischer Walfänger, der Naskapi und von französischen Schiffbrüchigen nachweisen – ganz abgesehen von Hinweisen auf eine Handvoll Archäologen, die seit zwei Wochen nicht mehr geduscht haben und ganz aus dem Häuschen sind, sobald irgendwo ein bisschen Feuerstein schimmert.
Noah kniet sich in den Graben und durchharkt mit seiner Kelle den Boden, wobei er Unmengen schwärzlicher Erde abträgt, die er nach und nach in Plastikbeutel füllt. Langsam kommen einige verkohlte Scherben zum Vorschein. Vor tausend Jahren ist hier ein Topf aus gebranntem Ton auf die Erde gefallen, vielleicht war ein ungestümes Kind die Ursache. Wenn Noah jetzt die Augen schließt, könnte er schwören, den Schwall paleoinuitischer Schimpfworte zu hören.
Während er die Anordnung der Scherben auf dem Ausgrabungsplan vermerkt, ertönt jenseits des Grabhügels ein großes Geschrei. Er hebt den Kopf gerade rechtzeitig aus dem Graben, um einem Grenzzwischenfall zwischen Howard und Édouard beizuwohnen. Es knallt ordentlich, und kaum einen Augenblick später greifen sie zu den Waffen: Howard versucht Édouard mit seiner Kelle den Garaus zu machen, aber Édouard – der in der Schule Fechten hatte – entgeht den Stößen und startet mit der Kleinausgabe eines Gartenrechens eine Gegenoffensive, wobei er versucht, Howard in seinen Graben zurückzudrängen.
Noah seufzt, wirft eine letzte Handvoll Erde in den Plastikbeutel und geht hinauf zum Bunker, ohne dem metallischen Klirren der Schlacht hinter sich weitere Beachtung zu schenken.
Wie jeder Bunker, der etwas auf sich hält, wird dieser in gebückter Haltung betreten. Im Inneren verschwinden die Wände hinter Hunderten weißer Plastikbeutel voller Erde. Man könnte glauben, sich in einem Unterstand aus dem Ersten Weltkrieg zu befinden – wegen dieses Eindrucks war Thomas Saint-Laurent auf den Kosenamen für seine Einsatzzentrale gekommen. Hier gibt es aber weder Geschosse noch Kugeln: Die Plastikbeutel schützen gegen den Zahn der Zeit. Draußen kann das 20. Jahrhundert wüten wie es will,
Weitere Kostenlose Bücher