Dickner, Nicolas
nächsten Tag. Danach druckt sie an der Registrierkasse noch die Tagesbilanz aus, und sortiert, während sich die Papierrolle abspult, die einzelnen Belege.
Eine Zahlenfolge weckt plötzlich ihr Interesse.
Joyce kann die Kreditkartennummern mehrerer Stammkunden des Fischgeschäfts auf den ersten Blick erkennen. Und diese Nummer hier gehört einer Art Geschäftsmann, der jeden Dienstag vorbeikommt, seinen BMW in zweiter Reihe parkt, verlangt, dass man ihn als Ersten bedient, jeden anschreit, der sich blicken lässt, an jeder Garnele etwas auszusetzen hat und die Schuld dafür demjenigen zuschiebt, der das Pech hat, sich gerade hinter dem Tresen zu befinden. Alle Angestellten des Fischladens, sogar der friedfertige Maelo, träumen davon, Lachssteak aus ihm zu machen.
Mit nachdenklichem Blick lässt Joyce den Beleg zwischen Daumen und Zeigefinger tanzen. Ein kurzes heißhungriges Flackern durchzuckt ihre Iris – unter der schön gefleckten Haut ist und bleibt die Scholle ein Raubfisch.
Sie schickt sich an, die Kreditkartennummer auf ihre Handinnenfläche zu notieren, zögert einen Moment und besinnt sich. Sie heftet den Stapel Belege zusammen und rechnet weiter ab, als sei nichts gewesen. Die Kasse weist einen Einnahmeüberschuss von 7,56 $ aus. Joyce steckt alles Geld – einschließlich des Überschusses – in den Umschlag für die Bank, versiegelt den Umschlag und schiebt ihn in den Safe.
Nachdem sie den Aktivierungscode der Alarmanlage eingetippt hat, begibt sie sich in Richtung Ausgang, wobei sie die Abrechnung im Geist rückwärts noch einmal durchdekliniert.
Draußen ist die Luft von vielfältigen Gerüchen schwer: Kohlenmonoxid, überhitzter Asphalt und stapelweise Kisten mit verfaultem Obst rund um den Marché Jean-Talon. Joyce atmet einmal tief ein und überquert die Straße ohne Hast.
Der Hauswart putzt die Glastür des Gebäudes mit großen weichen Bewegungen wie ein seltsamer resteverwertender Saugfisch die Innenwand eines Aquariums. Er unterbricht seine Arbeit und grüßt Joyce mit einem Nicken – ein Zeichen komplizenhaften Respekts, das ehrwürdigen Bürgern mit festem Einkommen vorbehalten ist.
Joyce’ schönster Erfolg in Sachen Tarnung.
Blitzableiter Jim
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Alles in allem: zehn Zentimeter Hochglanz- und Zeitungspapier, höchste Druckqualität, Farbfotos, zusammengepresst in durchsichtigem Plastik. Nach geologischen Maßstäben entsprächen diese zehn Zentimeter mehreren Jahrhunderten, vielleicht sogar einigen Jahrtausenden, da es sich aber nur um Werbeprospekte vor der Eingangstür handelt, schätzt Noah das Alter auf magere fünf Tage – wodurch er zu der Annahme kommt, dass Maelo seit letzter Woche in den Ferien ist.
Mit dem Rucksack auf der Schulter, dem Schlafsack zusammengerollt unter dem Arm, unrasiert, stinkend und voller Mückenstiche kommt er gerade von der Stevenson-Insel zurück und ihm ist nicht zum Lachen zumute. Er schnappt sich den Schwung Papierkram und geht zum nächsten Mülleimer zum Aussortieren. Nach dem Sieben bleiben drei Rechnungen und zwei Briefe an Sarah übrig, wobei letztere schnurstracks von den Poststellen in Athabasca (T9S 1A0) und Kerensky (T0A 3P0) zurückgeflogen kommen. Er lässt sich ins Wohnzimmer treiben, reißt die Rechnungen auf. Im Vorbeigehen schaltet er den Fernseher ein, bekommt eine Nachrichtensendung mit. Letzte Meldungen aus Bosnien-Herzegowina: Die NATO bombardiert die serbischen Stellungen; als Antwort darauf beschießen die Serben Sarajewo. Noah bringt die Kiste mit einem Tritt wieder zum Schweigen und lässt sich aufs Sofa fallen. Nach vier Monaten der Abgeschiedenheit stellt er fest, dass sich die Welt nicht verändert hat. Mit verschränkten Armen und der Rechnung von Hydro-Québec ausgebreitet auf seinen Knien starrt er zur Decke. Die Überschwemmung vom vergangenen Jahr hat bis dorthin Spuren hinterlassen: Quer durch die Wogen des Deckenputzes zieht sich eine kräftig gedeihende Pilzkolonie in petrolgrünen Atollen.
Noah denkt an den Südpazifik. Er würde gerne woanders sein, hat aber keine Ahnung wo.
Verdrossen schaut er auf seine Uhr. Dann
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