Dickner, Nicolas
Fragmente von drei verschiedenen Werken auszumachen, die der Reihe nach da wären:
Seite 27 bis 53: eine sehr alte Monografie über die Schatzinseln;
Seite 71 bis 102: eine pseudo-historische Abhandlung über die Piraten der Karibik;
Seite 37 bis 61: eine Biografie über Alexander Selcraig, Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel.
Dieses rätselhafte Buch vereint in der Anonymität einer gemeinsamen Bindung – oder dem, was davon übrig ist – drei einstmals auf weitentfernten Bibliotheksbrettern, beziehungsweise Müllhalden, verstreute Schicksale. Bleibt nur die Frage, welcher wirre Geist die Idee hatte, eine derartige Fusion vorzunehmen, und zu welchem Zweck.
Derzeit beschäftigt mich die Frage, ob die Frau dieses dreiköpfige Buch wieder abholen kommen würde. Sollte sie versäumen es zurückzufordern, könnten wir es selbstverständlich als das unsere betrachten und es zum Verkauf anbieten – doch dieses Kuriosum zu verkaufen ginge gar nicht: In seinem derzeitigen Zustand ist es kaum mehr wert als 50 Sous, und man kann doch nicht ernsthaft Bücher für 50 Cent verramschen, wie sähe das denn aus?
Ich betrachte das Buch mit einem Anflug von Zuneigung. Ich wickle es sorgfältig ein und lasse es in meinem Rucksack verschwinden.
Gradgenau
Das Erwachen ist so plötzlich, dass ich mich in einem Schwung im Bett aufsetze.
Ich knipse das Licht an und reibe mir kräftig die Augen. Auf dem Nachttisch erscheinen eine Teekanne, das Dreiköpfige Buch und der Nikolski-Kompass. Der Wecker zeigt 2:07 Uhr.
Endlich weiß ich wieder, wo ich die Unbekannte aus der Buchhandlung schon einmal gesehen habe.
Das ist schon einige Zeit her, im August 1990. Ich verfolgte gewissenhaft die Fernsehberichte über die Oka-Krise, vor allem seitdem die Warriors aus dem Reservat von Kahnawake die Autobahnbrücke Pont Mercier verbarrikadiert hatten, keine zehn Minuten von dem Dorf, aus dem ich stamme. Gelegentlich sah ich auf dem Bildschirm einen früheren Nachbarn dabei, die Polizei zu beschimpfen, oder die Indianer, manchmal auch beide gleichzeitig. Ich hatte die Frau bei mehreren Reportagen undeutlich im Hintergrund gesehen, wie sie sich unauffällig unter die Journalisten im Kiefernwald von Kanesatake mischte. Sie war jung, hübsch, trug eine kakifarbene Bluse und eine Jeans. Sie hatte keine kugelsichere Weste an, aber ein Presseausweis baumelte an ihrem Hals. Ich erkannte sie an ihren langen glatten schwarzen Haaren, ihrer olivfarbenen Haut und ihren Augen, von denen ich auch auf die Entfernung hin glaubte, dass es leichte Mandelaugen waren. Sie wirkte voll und ganz indianisch, und ich war jedes Mal von Neuem erstaunt, sie auf der Seite der Journalisten und der Polizei zu sehen, anstatt bei den Aufständischen. Gewiss gab es auf beiden Seiten eine große Präsenz an Indianern – Berater, Vermittler, Menschenrechtsbeobachter – aber ich hatte aus irgendeinem Grund den Eindruck, dass diese Frau nicht ganz in die Landschaft passte.
Aufrecht im Bett sitzend, grüble ich über diese weitentfernten Bilder nach, versuche, sie mit dem Besuch der Unbekannten in unserer Buchhandlung in Verbindung zu bringen. Handelt es sich um einen Zufall, oder gibt es einen unsichtbaren Zusammenhang zwischen den innenpolitischen Ereignissen in Kanesatake und einem alten, zusammengeflickten Buch voller Piratengeschichten?
Genau das ist das Problem bei unerklärlichen Ereignissen: Letztlich glaubt man unweigerlich an Vorsehung, Magischen Realismus oder an eine Verschwörung der Regierung.
Ich werfe einen Blick auf den Nikolski-Kompass. Ich klopfe drei Mal mit dem Fingerknöchel gegen das Plastik, so, wie man gegen das Glas eines Barometers klopft. Die Kugel schwankt und richtet sich dann wieder kompromisslos auf 34° westlich vom Norden. Immer gradgenau. Verstehe wer will.
Ich lösche das Licht und versuche wieder einzuschlafen.
1995
Die Stevenson-Insel
Die Sonne wird erst in gut zwanzig Minuten über diesem verlorenen Winkel der nördlichen Halbkugel aufgehen. Am Ende der Bucht schimmert die Handvoll elektrischer Lichter von Tête-à-la-Baleine. Die roten und grünen Positionsfeuer eines Kutters ziehen den Kanal hinauf, ziehen am Leuchtturm der Île aux Mermettes vorbei und verschwinden hinter der Île Providence.
Mit einem Schaudern betrachtet Noah die gespenstische Masse eines Eisberges, der auf das offene Meer hinaustreibt. Der Monat Mai hat hier nichts Frühlingshaftes – 800 Seemeilen flussabwärts von Montréal – und er fragt sich, ob
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