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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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drinnen im Bunker pendelt sich die Atmosphäre bei ca. fünfhundert vor unserer Zeitrechnung ein.
    In der Mitte des Durcheinanders biegt sich ein großer Tisch unter Schachteln mit Steinen, Keramikscherben und Stapeln von Karteikarten. Vor einer Auswahl an Pfeilspitzen sitzt Thomas Saint-Laurent und reibt sich die Arme mit DEET ein.
    „Was ist das da draußen für ein Krach?“, fragt er gedankenverloren.
    „Das übliche Morden und Metzeln.“
    Noah nimmt einen Filzstift, schreibt eine Nummer auf den Sack Erde und fügt ihn ein in die Stützmauer des Bunkers. Noch ein Beitrag zur Kriegsarchitektur . . .
    Jeden Abend nach dem Essen wird die Arbeit bei Fackelschein fortgesetzt: Man macht den Abwasch und erzählt dabei, was am Tag alles passiert ist, man schreibt seine Aufzeichnungen noch einmal sauber ab, man ordnet und sortiert, was einem in die Finger kommt. Danach, wenn die Kälte überhand nimmt, legt man sich früh schlafen, ein jeder in seinem Zelt.
    Eingezurrt in seinen Schlafsack aus den Beständen eines Armeeshops betrachtet Noah mit einer Taschenlampe unter dem Kinn seine alte Karibikkarte, die er an die Zeltwand geheftet hat. Das ist das Einzige, was ihm von dem Buch ohne Gesicht geblieben ist, das im selben Moment verschwunden ist wie Arizna. Zehn Monate sind seitdem vergangen und Noah hat weder die junge Frau noch das Buch je wiedergesehen.
    Er sieht seinen gefrorenen Atem aus dem Mund aufsteigen und muss an Leonard denken, einen Kommilitonen, der in ebendiesem Augenblick damit beschäftigt ist, den ehrwürdigen Staub der Insel Hydra im Saronischen Golf zu durchwühlen. Noah hat das Gefühl, auf die falsche Insel geraten zu sein. Er hat mehrmals daran gedacht, sein Studium abzubrechen, aber ohne befriedigende Ersatzlösung hat er sich nicht dazu durchringen können, der Realität ins Auge zu blicken – und da liegt er also jetzt inmitten von Flechtengewächsen, schaut sich eine alte Karibikkarte an und bibbert.
    Die Taschenlampe, die seit einiger Zeit schon schwächer wird, flackert und erlischt. Noah schüttelt sie, vergebens. Jetzt bleibt ihm nur noch der Versuch zu schlafen.
    Als er sich auf die Seite dreht, bemerkt er durch das Nylon der Zeltwand einen Lichtschein. Im Bunker brennt Licht. Er windet sich aus seinem Schlafsack, zieht sich an und geht aus dem Zelt. Ein eisiger Wind kommt vom Meer. Im Osten blinkt der Leuchtturm der Île aux Mermettes alle zwei Sekunden. Die Kälte scheint im Bunker noch beißender zu sein als draußen, und Thomas Saint-Laurent sitzt in drei Wollpullover eingemummt an seinem Arbeitstisch und hat sich eine alte, geflickte Daunendecke übergeworfen. Umkreist von einer Wolke Mücken geht er im grellen Licht des Butans die Ausgrabungspläne durch.
    „Sieh mal an“, ruft er, „noch einer, der nicht schlafen kann!“
    Er zieht aus seinen wollenen Schichten einen Flachmann aus Edelstahl und wirft ihn Noah zu. Nach dem Duft der Umgebung zu urteilen, handelt es sich dabei entweder um Alkohol oder um ein Insektenmittel. Noah schraubt den Verschluss auf und riecht am Flaschenhals.
    „Whisky?“
    „Scotch“, antwortet Tom Saint-Laurent und streckt sich. „Cutty Sark, um genau zu sein.“
    „Die gelbe Flasche mit dem Segelschiff drauf?“
    „Die gelbe Flasche mit der Cutty Sark drauf. Dem schnellsten Segelschiff des 19. Jahrhunderts. Sie brachte Tee aus China und Wolle aus Australien. Jetzt liegt sie in London und hat die Laderäume voller Touristen.“
    Noah trinkt einen kräftigen Schluck und lässt den Flachmann an Thomas Saint-Laurent zurückgehen, der seinerseits einen Zug nimmt.
    „Ich dachte, alle Schiffe gehen irgendwann unter.“
    „Dieses nicht.“
    Im Bunker wird es ein paar Grad wärmer. Thomas Saint-Laurent legt die Füße auf eine Ecke des Tisches, quer über einen Stapel Formulare vom Kulturministerium.
    „Und du kannst nicht schlafen?“
    „Ich habe Alpträume. Nachts verbringe ich die Zeit damit, mit einem kleinen Löffel Tunnel zu graben.“
    Noah besieht sich die Hundertschaften von Beuteln, die sie umgeben. Am Ende des Sommers muss all diese Erde sorgfältig gesiebt werden, um auch noch den kleinsten Splitter gebrannten Ton herauszufischen, den sie möglicherweise übersehen haben, damit dann die Ausgrabungsstelle systematisch Schicht für Schicht wieder zugeschüttet werden kann. Im September wird die Oberfläche des Bodens kaum noch Unregelmäßigkeiten aufweisen. Im Jahr drauf werden die Flechten nachwachsen. In zwei Jahren wird von ihrem

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