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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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Sie bestand im Wesentlichen aus belanglosen religiösen Schriften, überholten militärischen Abhandlungen, veralteten Geschichtsbüchern, Blütenlesen kolonialer Lyrik, Anthologien vergessener Autoren sowie einer erstaunlichen Mannigfaltigkeit vergilbter Enzyklopädien – nicht mehr aktuell genug, um als Nachschlagewerk zu dienen und nicht alt genug, um als Antiquität durchzugehen. Überdies bot sie einem gefräßigen Stamm Schimmelpilze Obdach, der das maritime Klima auf Margarita nutzte, um prächtig zu gedeihen. Seither schwirren Milliarden von Sporen durch das Haus, stille Zeugen und Duftmarke dieses merkwürdigen Bibliotheksepos.
    Im Grunde lehrt uns diese Geschichte nur eines: Don Eduardo, ein miserabler Leser, hatte die betrübliche Bedeutungslosigkeit seiner Bücher ganz einfach vergessen.
    Noah sitzt allein im Dunkeln an dem langen Tisch aus Mahagoni, der die Bibliothek in zwei Teile teilt. Eine altertümliche Leselampe zeichnet um ihn herum einen Kreis aus Licht. Ein Bündel dreifarbiger Air Mail/Correo Aereo -Briefumschläge, ein Streifen Briefmarken mit Abbildungen von Meeresschildkröten darauf und eine Straßenkarte von Saskatchewan liegen ausgebreitet in Reichweite.
    Seit zwölf Tagen und zwölf Nächten regnet es jetzt ohne Unterbrechung, als drohte eine Sintflut, die ganze Isla Margarita zu überfluten und die Passagiere dieses Hauses in alle vier Himmelsrichtungen zu verstreuen. Noah hat sich nörgelnd in die Bibliothek eingeschlossen und versucht, bewaffnet mit seinem Korrespondenzkrempel, der Klaustrophobie zu entkommen, indem er blindwütig blau-rote Umschläge durch die kanadischen Weiten katapultiert wie bei einem riesigen Schiffeversenken.
    Über die Karte gebeugt, gibt er sich einer rätselhaften Form von Algebra hin. Die Prärie ist übersät mit Hunderten kleiner Kreise, Daten, Postcodes, Kritzeleien und Fingerabdrücken. Seit Jahren notiert Noah jeden Brief mit einem x, neben dem er in Krakelschrift Datum und Versandort vermerkt. Würde man alle diese x in chronologischer Reihenfolge durch eine lange Linie miteinander verbinden, könnte man die Reise rekonstruieren, die ihn zwischen 1989 und 1999 von Saskatchewan zur Insel Montréal, von der Insel Montréal zur Stevenson-Insel und von der Stevenson-Insel zur Isla Margarita gebracht hat. Und das Ganze überlagert (inklusive der damit einhergehenden Verzerrung) mit den Veränderungen im Verlauf des Flusses Souris, der Ausdehnung von Saskatoon und der Reservate der Chipewyan.
    „Störe ich dich?“
    Noah schreckt hoch. Arizna hat die Bibliothek betreten, ohne das leiseste Geräusch zu machen.
    „Ich habe einen Brief geschrieben. Komm ruhig, ich bin fast fertig.“
    Sie nähert sich dem Tisch, ohne ein Wort zu sagen. Noah hat gerade eine Adresse ausgewählt (Rouleau, Saskatchewan, S4P 3V7), die er eilig auf den Umschlag kritzelt. Es ist der neunte Brief, den er seiner Mutter in dieser Woche schreibt, eine direkte Folge des Sauwetters, das über Margarita wütet.
    Arizna setzt sich ihm gegenüber auf die andere Seite des Tisches. Sie scheint müde – das heißt: sehr viel müder als normalerweise.
    „Alles okay?“, fragt Noah besorgt.
    „Mehr oder weniger. Ich habe schlechte Neuigkeiten von meinem Großvater.“
    „Was ist los? Ist er krank?“
    „Mein Großvater? Krank? Das würde mich wundern, er hat eine eiserne Gesundheit, der alte Fuchs. Nein, schlimmer: Er ist verschwunden.“
    „Verschwunden?“
    „Die Polizei hat einen Haftbefehl gegen ihn erlassen. Sie erzählen irgendetwas von Betrug oder so, ich kenne noch keine Details. Sie standen heute morgen bei ihm vor der Tür, haben ihn aber nicht gefunden. Er ist nirgends: weder bei sich, noch auf der Arbeit, noch in seinem Zweitwohnsitz.“
    „Woher kommt dieser Haftbefehl?“
    „Es gibt mehrere: einen von der Polizei in Caracas, einen von der Polizei in Miami und dann einen von Interpol.“
    „Sonderbar. Ich hätte gedacht, dass die Regierung Chavez etwas zögerlicher ist, mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten.“
    Taktischer Waffenstillstand. Mein Großvater hat für die Konsularabteilung unter Carlos Andrés Pérez gearbeitet, er bekommt also keinerlei Unterstützung von der jetzigen Regierung. Doch warte, das ist nicht alles: Da er der Hauptaktionär des Tortuga Verlags war, droht die Polizei damit, unsere Büros zu durchsuchen, die EDV zu beschlagnahmen und unsere Bankkonten einzufrieren. Sie könnten dir genauso gut dein Visum entziehen, da du ja auf unsere Einladung

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