Dickner, Nicolas
hier bist – und nichts garantiert dafür, dass sie nicht auch mich in Gewahrsam nehmen, für den Fall, dass ich etwas zu verbergen hätte.“
„Scheiße . . .“
„Du nimmst mir das Wort aus dem Mund. Also, deshalb möchte ich dich um etwas bitten. Ich möchte, dass du Weihnachten mit Simón in Montréal verbringst, bis sich die Lage hier beruhigt hat.“
„Kein Problem. Wann reisen wir ab?“
Sie schaut auf ihre Uhr.
„Gegen vier Uhr morgens.“
„Vier Uhr morgens?! Machst du Witze?“
„Überhaupt nicht. Ich habe schon eure Tickets gekauft.“
„Aber . . .“
„Ach stimmt, ich habe auch das hier für dich fertig gemacht . . .“
Sie reicht ihm einen venezolanischen Reisepass und einen kleinen weißen Umschlag. Der Pass offenbart den Blick auf ein Farbfoto von Simón. Der Junge lächelt begeistert, so als würde er nicht furchterregenden nordamerikanischen Zöllnern gegenübertreten, sondern einfach Schätze am Strand suchen gehen.
Noah öffnet den Umschlag mit Besorgnis. Zwischen seinen Fingern entfaltet sich ein offizielles Schreiben in drei Sprachen, mit dem Arizna Burgos Mendez, in körperlich und geistig einwandfreier Verfassung, Kraft ihrer Unterschrift Herrn Noah Riel als den leiblichen Vater und offiziellen Vormund von Simón Burgos anerkennt, La Asunción (Nueva Esparta), Venezuela, den 16. Dezember 1999.
„Ich glaube“, erklärt sie mit fast neutralem Tonfall, „das reicht, um durch den Zoll zu kommen.“
In der Bibliothek hört man nur noch das dumpfe Prasseln des Regens gegen die Fenster. Noah nickt zustimmend. Er ist sichtlich erschlagen, aber ein schmales Lächeln erhellt sein Gesicht. Er liest den Brief ein zweites Mal, ungläubig, faltet ihn sorgfältig zusammen und steckt ihn zurück in den Umschlag. Er sagt nichts – es gibt auch nichts zu sagen. Das Schweigen dauert an, während Arizna mit gerunzelter Stirn nach denkwürdigen Worten sucht, um dieses Kapitel ihres Lebens zu beschließen.
„Pack deine Sachen“, sagt sie schließlich mit einem Schulterzucken. „Ich kümmere mich um die von Simón.“
Sie steht auf, winkt kurz und entgleitet ins Halbdunkel. Im nächsten Augenblick ist Noah alleine mit Simóns Pass in der Hand. Er betrachtet das Foto mit einem Lächeln. Dann springt er vom Stuhl auf, rafft alles zusammen, was den Tisch bedeckt – Umschläge, Briefmarken, Straßenkarte von Saskatchewan – und pfeffert das Ganze in einer Lawine aus Papierkram und Staub in den Mülleimer.
Er reibt sich die Hände, knipst die Lampe aus und geht seine Koffer packen.
Der Kleine Wagen
Es klopft an der Tür.
Keine Antwort. Kein Lebenszeichen in der Wohnung – außer dem leisen Freizeichen eines Telefons mit schwarzer Wählscheibe, dessen Hörer offenbar seit einigen Minuten neben der Gabel liegt. Die Silhouette des altertümlichen, mit einer Unzahl weißer Farbflecken besprenkelten Apparats setzt sich gegen den sternenübersäten Himmel ab. Auf dem Hörer bilden fünf dicke, weiße Punkte den Kleinen Wagen nach.
Das Telefon steht auf einem wackeligen Stapel Programmierhandbücher neben einer leeren Flasche Rum und einem schwarzen Wecker, der gerade 6:37 Uhr anzeigt. An der Wand berichten zwei verblichene Pressenotizen über die Verhaftung und Verurteilung einer Frau, die 1989 in den USA der Piraterie beschuldigt wurde.
Der Schreibtisch ist in einer unvorstellbaren Unordnung. Ganz offensichtlich wurden die Schubladen im Hinblick auf eine plötzlich bevorstehende Abreise ausgeleert, um verschiedene Dinge daraus mitzunehmen. Bei eingehender Betrachtung der Umgebung hätte man das Fehlen eines Notizbuches, eines Stapels CD-ROMs, eines spanischen Wörterbuchs, eines beträchtlichen Vorrats an gefälschten Karten und eines alten, marineblauen Seesacks feststellen können.
Inmitten der Unordnung thronen ein Röhrenbildschirm und ein Computer, der mit blauem Marker auf den Namen Louis-Olivier Gamache getauft wurde. Der Computer ist in Betrieb (man kann das diskrete Schnurren des Ventilators hören), und die Mitteilung auf dem Bildschirm zeigt an, dass die Festplatte soeben gelöscht und neu formatiert wurde.
Der Rest des Zimmers befindet sich in einem vergleichbaren Chaos.
Auf dem Boden liegen eine Schale mit Resten von Reis und Krebsfleisch (überragt von zwei lackierten Stäbchen), ein Kochtopf, der nach Dorschsuppe mit Kümmel riecht, eine Dose Sardinen, die ihrer Passagiere entledigt worden ist, und eine leere Tüte Krabbenchips. Diese kulinarische Spur führt weiter bis
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