Dickner, Nicolas
Kompass taucht, von einer Dampfwolke getragen, wieder auf. Ich seufze. Joyce schließt das Buch und legt es dicht neben die Teekanne.
„Hast du nichts anderes als Tee?“, fragt sie. „Deine Lip-pen sind immer noch blau, da brauchst du etwas Kräftigeres.“
Kurze Tour in die Küche und ich stelle zwei kleine Gläser und eine Flasche billigen Jamaikarums auf den Tisch – „Der Galgentrunk“, scherzt Joyce. Ich schenke bis an den Rand ein, wir heben die Gläser, prosten uns stillschweigend zu und kippen den Rum in einem Zug. Der Alkohol geht mir augenblicklich ins Blut.
„War er wertvoll, dieser Kompass?“, fragt Joyce, als sie ihr Glas abstellt.
„Nicht wirklich. Das war ein Ding aus Plastik für fünf Dollar, aber ich hatte ihn von meinem Vater. Der hatte ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Und da ich meinen Vater nie kennengelernt habe, hatte der Kompass symbolischen Wert.“
„Du hast deinen Vater nie kennengelernt?“
„Meine Eltern haben sich an der Westküste getroffen. Als meine Mutter schwanger wurde, ist sie zurück in die Vorstadt von Montréal gezogen. Meine Mutter und mein Vater haben sich einige Jahre geschrieben, aber ich habe ihn nie gesehen.“
„Nicht mal auf einem Foto?“, wundert sich Joyce.
„Das einzige Foto von ihm hängt hinter dir, neben der Karte von Porto Rico.“
Joyce steht auf, um den Abzug genauer zu betrachten. Meine Mutter steht ganz alleine mit vom Wind zerzausten Haaren auf einem Kieselstrand, sichtlich steifgefroren trotz der dick gefütterten Armeejacke. Hinter ihr zieren Hunderte ausgebleichter Walknochen die Landschaft. In einiger Entfernung erahnt man eine Blechhütte mit Kurzwellenantenne daneben.
„Wo ist dein Vater?“, fragt Joyce mit gerunzelter Stirn.
„Siehst du den großen verschwommenen Fleck rechts? Das ist sein Finger, der ins Objektiv ragt. Er hat den Fotoapparat gehalten.“
Joyce schenkt einmal mehr die Gläser voll. Prost, auf Ex. Ich spüre langsam ein Schlingern.
„Ist er an der Westküste geblieben?“
„Ja. Er ist hoch bis nach Alaska gegangen, in ein kleines Dorf namens Nikolski. Einige Jahre lang habe ich geglaubt, alle Kompasse der Welt würden dort hergestellt. Ich stellte mir eine riesige Kompass-Fabrik direkt auf dem Nordpol vor. Ich hatte komische Ideen, manchmal.“
„Überhaupt nicht“, protestiert Joyce. „Der magnetische Norden verändert seine Lage, er hätte doch gut durch Nikolski gehen können, oder?“
„Verlockende Theorie, aber Nikolski liegt zu weit im Süden.“
Ich gehe die Papprolle holen, in der ich meine Karten aufbewahre. Ich rücke den Wohnzimmertisch zur Seite, rolle die Karten auf dem Boden aus und beschwere die Ecken mit der Rumflasche, der Teekanne und zwei Stapeln Reiseführern. Joyce kniet sich neben mich und löst ein Schwindelgefühl in mir aus, das ich lieber auf den Rum zurückführen möchte als auf die verstörende Nähe zwischen ihrem Knie und meiner Hand.
Auf der ersten Karte ist das Nördliche Eismeer abgebildet.
„Also. Im Moment liegt der magnetische Norden auf der Ellef-Ringnes-Insel, genau hier. Er bewegt sich allmählich zum geografischen Nordpol. Zu Beginn des Jahrhunderts befand er sich in der Gegend der Halbinsel Boothia, also fast zweitausend Kilometer weiter südlich.“
„Und Nikolski?“
„Ist auf einer anderen Karte.“
Ich lege die Karte von Alaska obenauf, wobei ich Rumflasche und Teekanne gefährlich ins Wanken bringe. Joyce fängt die Flasche auf und stellt uns bei der Gelegenheit gleich ein neues Trankopfer bereit. Prost, auf Ex. Das Wohnzimmer beginnt zu schaukeln.
„Siehst du? Nikolski befindet sich auf der Insel Umnak, mitten in den Aleuten – dieser Inselkette in Form einer Wirbelsäule.“
„Einer Wirbelsäule?“, erwidert Joyce und schnuppert am Boden ihres Glases. „Ich fand immer, dass die Aleuten den Antillen ähneln.“
Ach? Ich schlage einen Reiseführer über die Dominikanische Republik auf und halte die Karte der Antillen direkt neben die der Aleuten. Man könnte meinen, es handele sich um genau die gleiche Inselkette, die irgendein Spaßvogel um 180° gedreht hat.
„Dein Vater hat also in Nikolski gelebt . . .“, sagt sie, während sie die Karte betrachtet. „Was für ein Kaff.“
„Sechsunddreißig Einwohner, fünftausend Schafe und eine kleine Fabrik für Krebsfleischkonserven.“
„Was hat er da gemacht?“
„Keine Ahnung. Seine Briefe waren nicht sehr präzise. Ich weiß nur, dass er auf einer Distant-Early-Warning-Station
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