Dickner, Nicolas
gearbeitet hat.“
„Distant Early Warning . . . Das habe ich irgendwo schon mal gehört.“
„Im Kalten Krieg hat die US-Armee um die sechzig Radarstationen in der Arktis gebaut. Die Frontlinie ging in Grönland los, teilte die Tundra in zwei Teile und endete in Nikolski. Das nannte sich die Distant-Early-Warning-Line. Meine Mutter hatte einen ganzen Ordner voll zu dem Thema gesammelt: Zeitungsausschnitte, Fotos, alte Ausgaben des Life Magazine . . . Ich weiß gar nicht mehr, wo ich das jetzt alles habe.“
„Sicher unten im Keller, bei den Seeigeln.“
„Sicher.“
„Und ist er lange in Nikolski geblieben?“
„Er ist dort gestorben, nicht lange nach seiner Ankunft. Sie haben ihn am Abend vor Weihnachten unter einer Plattform gefunden. Der Dorfarzt diagnostizierte Halswirbelbruch. Die US-Armee konnte seine Familie nicht ausfindig machen, also wurde die Leiche bis zur Autopsie vor Ort bestattet.“
„Aber wie habt ihr davon erfahren?“
„Seine Kollegen fanden ein Bündel Briefe in seinem Schrank und entschieden, alle Adressen anzuschreiben, um die Situation zu erklären. Sie hofften sicherlich darauf, dass irgendein entfernter Neffe um die Rückführung der Leiche bitten würde. Meine Mutter schickte ihnen eine Antwort, sechs Monate später kam der Brief aber zurück. Die US Air Force hatte die Basis in Nikolski geschlossen. Ich vermute, dass mein Vater immer noch dort begraben liegt, im Schatten der Radaranlagen.“
„Und die anderen Briefe?“, fragt Joyce, während sie uns Rum nachschenkt. „Weißt du, von wem die waren?“
Ich leere mein Glas, verziehe das Gesicht, zucke die Schultern.
„Keine Ahnung. Mein Vater war Seemann, er hatte sicher in jedem Hafen eine Frau – Hamburg, Shanghai, Callao . . . Gut möglich, dass ich Dutzende Geschwister habe, überall auf dem Globus verstreut. Aber das werde ich nie wissen, da die Briefe verschwunden sind. Vielleicht sind sie verbrannt oder wurden auf die Kippe geschmissen oder zusammen mit meinem Vater beerdigt. Oder sie liegen top secret im Militärarchiv von Anchorage.“
Joyce nimmt die Rumflasche von der Ecke der Karte – die sich leicht einrollt –, füllt die Gläser, stellt die Flasche zurück an ihren Platz und hebt feierlich ihr Glas.
„Trinken wir also im Gedenken an deinen Vater, deine Mutter, deine verstreute Familie und den alten Kompass für fünf Dollar, der tapfer bis zum Schluss nach Norden gezeigt hat.“
Ich verkneife mir, ihr zu erklären, dass mein Kompass nicht nach Norden gezeigt hat, sondern nach Nikolski: Diese Geschichte ist so schon verworren genug. Wir leeren unsere Gläser mit lautem Gluckgluck und stellen sie auf der Karte ab, ich meines in Fairbanks, sie ihres mitten in der Beaufortsee. Da haben wir es: Ich bin besoffen, schwer angeschlagen von der Mischung aus eiskaltem Wasser, Kindheitserinnerungen und billigem Rum – ganz abgesehen von Joyce’ Knie direkt neben meiner Hand.
Ich schließe die Augen und lasse mich kopfüber in die Beringsee kippen.
Visum
Auf den ersten Blick scheint die Familienbibliothek der Burgos Lorenzos mit dem Haus verwachsen, so als hätte sie sich im Laufe der Jahrhunderte nach und nach in den Räumen eingenistet. An bestimmten Nachmittagen, wenn goldenes Licht durch die Fenster fällt, stellt man sich gerne einen früheren Hausherren vor, wie er gerade dabei ist, dicke Abhandlungen über Perlenzucht zu wälzen, beziehungsweise Simón Bolivar beim Verfassen einer feurigen Schrift.
Es handelt sich dabei jedoch um eines der zahlreichen falschen Gerüchte über das Haus. Die Bücher waren nämlich alle auf einmal hierhergekommen, und zwar als Eduardo Burgos Lorenzo seine Immobilien in Cassas abstieß. Die Lieferung – im Ganzen umfasste sie um die fünfzig Bücherkisten aus Massivholz – war im Frühjahr 1977 eingeschifft, am Kai von Punta de Piedras gelöscht und schließlich in die Höhen der Insel hinaufgeschleppt worden, unter Beteiligung von drei Lastwagen und zehn schlecht bezahlten, rüstigen Insulanern.
Über diesen Eifer wunderte sich die Familie ein um das andere Mal: Warum war es Eduardo Burgos Lorenzo, nachdem er seine Häuser ohne die geringste Gefühlsregung abgestoßen hatte, so wichtig, diesen Haufen Bücher zu behalten? Vielleicht fürchtete er, ein Werk zu verscherbeln, das er eines Tages möglicherweise zu einem guten Preis weiterverkaufen könnte? Trotz ihres Umfangs und der spekulativen Erwägungen enthielt die Bibliothek jedoch nichts besonders Wertvolles:
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