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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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dieser Seufzer hintereinander, ohne Hast, und taucht dann wieder in die Tiefen des Gebäudes hinab. Nach anderthalb Stunden Atempause beginnt die Prozedur wieder von vorne. Diese Atemfrequenz bleibt unverändert, ganz egal ob das Thermometer 5 oder 55 Grad unter Null anzeigt, derart, dass im tiefsten Januar die Zeiträume zwischen der Gebläsetätigkeit einen guten Einblick in nordsibirische Klimaverhältnisse gestatten.
    Vor diesem Abend hätte ich nie gedacht, dass ich mich einmal für die Anatomie von Warmluftgebläsen interessieren müsste. Ich schlängele mich an der Wand entlang, um die Lage genauer zu betrachten. Im Bauch des Tieres fauchen die Flammen, nur wenige Zentimeter vor meiner Nase. Ich würde am liebsten auf der Stelle umkehren, muss aber an den Nikolski-Kompass denken und kämpfe mich weiter vor.
    An der Rückseite des Geräts steigt ein Dutzend Warmluftkanäle in die bewohnten Bereiche des Gebäudes auf, zu einem komplexen Gewirr aus Eingeweiden verwoben. Ein Blick genügt, um zu erkennen, dass ein gewissenhafter Arbeiter diese Kanäle einst für alle Ewigkeit vernietet hat und somit jeder Gegenstand, der einmal aus den oberen Etagen in einen der Belüftungsschächte fiele, zu einem langen Verdauungsprozess verurteilt war.
    Mein gesamter Körper beginnt zu zittern. Die brennend heiße Nähe des Warmluftgebläses ändert nichts an der Temperatur des Wassers. Ich denke an die dampfende Teekanne drei Stockwerke über unseren Köpfen. Wenn wir diesen Ort nicht bald verlassen, droht uns ein Kälteschock oder eine Lungenentzündung mit anschließender Hirnhautentzündung. Ich murmele ein kurzes Requiem für den Kompass und entziehe mich dieser Grube, mit vor Kälte völlig gefühllosen Beinen.
    „Mein Kompass ist rettungslos verloren!“, verkünde ich in dramatischem Ton.
    Joyce scheint mich nicht gehört zu haben. Während ich die Rückseite des Warmluftgebläses untersuchte, hat sie systematisch den Rest des Kellers erkundet, und das im sechzig Zentimeter tiefen Eiswasser mit ebensolcher Leichtigkeit wie bei mir im Wohnzimmer.
    „Wo geht’s da hin?“, fragt sie und zeigt auf eine Tür mit Vorhängeschloss.
    „Nirgendwohin. Das ist mein Kabuff. Also, ich habe Kisten da drin untergestellt, wird jetzt wohl alles voller Krebse sein.“
    Ich finde den Schlüssel an meinem Schlüsselbund und bezwinge das verrostete Schloss. Die Tür öffnet sich und gibt den Blick auf ein halbes Dutzend schwammartige, von blauroten Seeigeln bedeckte Pappkartons frei. Ich stoße einen Seufzer der Entmutigung aus und befühle, nachdem ich eine Kiste aufgerissen habe, mit besorgter Hand deren Inhalt. Unter meinen starren Fingern spüre ich die raue Oberfläche eines mir bekannten Gegenstandes.
    Es ist das alte Dreiköpfige Buch.

Distant Early Warning
    Draußen hat sich die Gewalt des Unwetters verdoppelt – kein guter Augenblick, um irgendwo hinzugehen. Ich borge Joyce trockene Kleider, eine Jeans, einen alten Wollpullover und zwei ungleiche Wollsocken. Wir wechseln die Kleider jeder für sich, ich in meinem Zimmer, sie im Bad.
    Wieder auf dem Trockenen mache ich mich schleunigst daran, neuen Tee zu kochen. Als ich mit der Teekanne ins Wohnzimmer zurückkomme, blättert Joyce auf der Couch sitzend im Dreiköpfigen Buch. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, verstört, sie in meinen Anziehsachen zu sehen. Sie sieht aus wie mein weiblicher Doppelgänger, eine Art Cousine, aus dem Nichts aufgetaucht.
    „Sie hießen Ann Bonny und Mary Read“, verkündet sie mit einem breiten Grinsen. „Und du hattest recht: Als die Engländer die Mannschaft von Jack Rackham gefangen nahmen, waren die beiden die einzigen, die das Schiff verteidigten.“
    „Was passierte dann?“
    „Die Engländer brachten die Mannschaft nach Jamaika, um ihnen dort den Prozess zu machen. Sie wurden allesamt gehängt, bis auf Bonny und Read, die schwanger waren. Anscheinend wollten die Engländer kein ungeborenes Menschenleben hinrichten und haben die beiden also ins Gefängnis geworfen, um die Geburt abzuwarten. Mary Read ist wenig später an einem Fieberanfall gestorben.“
    „Und Ann Bonny?“
    „Ann Bonny ist entkommen, und man hat nie wieder etwas von ihr gehört. Von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht ging sie zurück nach Providence, um dort zu entbinden.“
    Ich stelle die Teekanne auf den Wohnzimmertisch. Im selben Augenblick stößt das Warmluftgebläse einen langen, provokanten Rülpser aus. Für eine Sekunde habe ich die Vorstellung, der

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